Der amerikanische Präsident Biden fand am Sonntag, den 9. Juli, im Interview bei CNN vor der Woche des historischen Nato-Gipfels in Vilnius, deutliche Worte. Selenski drängt ebenso wie die baltischen und osteuropäischen Staaten auf einen Beitritt in die Nato, sie wollen keinen „Gipfel der leeren Worte“.
Biden wird der Ukraine mitten im Krieg jedoch keinen Beitritt versprechen: „Dann sind wir alle im Krieg“. Ein Krieg der Nato mit Russland ist nicht die Linie der amerikanischen Politik, mögen dies noch so viele gehässige unwissende Antiamerikanisten unterstellen und einige Verbündete sogar wünschen. Letztere wissen nicht, was sie sagen.
Bidens Position ist klar: die Ukraine wird nicht Nato-Mitglied, solange der Krieg läuft. Es kann aber danach mit einer besonderen Militärpartnerschaft wie Israel rechnen. Modell Israel also: Diese Unterstützung ist massiv, und zwar sowohl finanziell, militärisch wie technologisch. Sie soll eine gerüstete Verteidigungsbereitschaft ermöglichen, die Russland vor künftiger Aggressivität abhält.
Israel hat eine Beistandsgarantie, wie sie Artikel 5 des Nato-Vertrags vorsieht, nicht. Die Statuten sind diesbezüglich unmissverständlich. Wenn Selenski sagt, dass die Ukraine, was die Waffen und die Werte betrifft, de facto bereits in der Nato sei, so hat er recht und unrecht. Der Satz ist natürlich ein gefundenes Fressen für die russischen Propagandisten, die niemals einen Frieden schließen werden mit dem sogenannten „Kiewer Regime“, das sie angeblich bedroht.
Die Nato sollte sich tunlichst nach dem Tempo der USA entwickeln, das 70% des Nato-Verteidigungshaushalts aller Länder bestreitet. Die wichtigen Entscheidungen fallen in Washington und nicht in Brüssel oder Vilnius und schon gar nicht in Paris oder Berlin (Gideon Rachman, in ‚Financial Times‘).
Die Ukraine macht verständlicherweise Druck für einen schnellen Beitritt, auch auf Deutschland. Die Einheit der 31 Mitglieder wird auf die Probe gestellt. Was sind die verantwortungsvollen weitreichenden riskanten Entscheidungen in dieser Situation? Können wir die Problematik analytisch angehen?
Der ehemalige Generalsekretär der Nato Rasmussen (2009-2014), der frühzeitig vor der Aggressivität Putins gewarnt hat, plädiert heute wie ehedem 2008 schon Bush junior und Condoleezza Rice dafür, die Ukraine baldmöglichst in die Nato aufzunehmen: „Putin hat kein Vetorecht“. Die Bedenken, dass rote Linien überschritten werden, weist er zurück. Im Gegenteil: Erst klare Verhältnisse würden Europa wieder den Frieden bringen (im RDN-Interview, 10.7.).
Bisher hatte Putin wohlweislich einen Bogen um die Nato-Staaten gemacht und zum Beispiel die kleinen baltischen Staaten verschont. Ja, er hat zur Gewalt gegriffen. Vor der Ukraine in Tschetschenien, Georgien und Syrien. Man darf ihm deshalb nicht die Interpretations- und Entscheidungsgewalt über die roten Linien überlassen trotz seiner schrecklichen Drohungen.
Es ist daher mehr als verständlich, wenn die estnische Premierministerin Kaja Kallas gegenüber ‚Financial Times‘ frustriert zum Ausdruck bringt, dass „die Diskussion über Sicherheitsgarantien das Bild verwischt. Die einzige Sicherheitsgarantie, die wirklich funktioniert, gibt die Nato-Mitgliedschaft.“ Ein Zeitplan ist indes schwierig, da wir nicht wissen, wann dieser Krieg zu Ende ist. Und was Kriegsende heisst. Und ob ein Waffenstillstand hält.
Selenski, der lange und intensiv für den Nato-Beitritt geworben hat, ebenso wie Rasmussen/Jermak, die hinter den Kulissen aktiv waren, reist am Dienstag, dem 11. Juli, schwer enttäuscht und verstimmt nach Vilnius . Auf ‚Telegram‘ hält er die Abschlusserklärung, die schon vorliegt, für „respektlos“ und „absurd“, weil sie keinen konkreten Zeitplan enthält. Dies spiele Moskau in die Hände. Er wird am Mittwoch erstmals dem neu konstituierten Nato-Ukraine-Rat beiwohnen, der künftig viermal im Jahr tagt.
Trotzig verkündet er: „Die Ukraine wird nach dem Krieg Nato-Mitglied sein.“ Er wird noch und weiterhin Gespräche führen mit den „Bremsern“ USA und Deutschland, mit Biden und Scholz.
Die Formulierungen in den Statements von Stoltenberg und Biden am ersten Tag sind diplomatisch sprechend: „Man will die Ukraine an die Nato heranführen“ (Stoltenberg), und „die Ukraine soll in Zukunft beitreten können. Putin wird nicht die Oberhand behalten“ (Biden). Beide bedanken sich wechselseitig für die jeweilige Führungsstärke. Im ‚Familienbild am Dienstag‘ steht Sunak neben Biden, dahinter stehen Macron und Scholz.
Das Treffen ist historisch, bevor es beginnt, denn mit Schweden verstärkt sich die Nato nicht nur in der Ostsee. Erdogan hat dem großen Druck der USA nachgegeben. Die F16-Kampfflugzeuge sind für ihn von großer Bedeutung. Seine Einwände waren lediglich Vorwände und gehören zu den bekannten Inszenierungen des Sultans, um sich wichtig zu machen. Orban trottet nach.
Die Unterstützung der Ukraine bleibt groß und wird massivst verstärkt:
- die USA und Deutschland beschließen weitere Waffenpakete, letztere mit 700 Millionen Euro, gezielt vor allem für die Luftverteidigung, Artillerie und Panzer; dadurch entstehen wieder Lücken in der Bundeswehr. Langstreckenwaffen wie das ‚Taurus‘-System werden bewusst nicht geliefert. Frankreich hat inzwischen Marschflugkörper mit großer Reichweite zugesagt, worauf Russland prompt reagiert.
- Neue konkrete Abwehrpläne für alle Heeresteile, ja selbst für den Cyberspace und den Weltraum werden zudem beschlossen. Die Militarisierung der Welt schreitet voran, der hybride Krieg wird konkret und Sicherheit zum überragenden, alle Bereiche infiltrierenden Thema.
- Die militärisch wichtige Interoperationalität der Nato, die bei ‚Air defender‘ geübt wurde, wird weiter verbessert. Sie nimmt Finnland und Schweden als neue Mitglieder auf, macht somit die Ostflanke verteidigungsfähig und zeigt darüber hinaus globale Präsenz mit Gästen aus Japan, Australien und Neuseeland in Litauen. Der Krieg ist bereits ein ‚Welt‘-Krieg geworden mit neuen überraschend gefährlichen Dimensionen. Der Kampf um die neue Weltordnung hat begonnen, der Ausgang ist ungewiss.
Währenddessen geht die ukrainische Gegenoffensive langsam und stetig weiter. Ein Gebiet, welches die russische Winteroffensive besetzen konnte, wird zurückerobert. Der Krieg wird täglich brutaler und verlustreicher, einschließlich der zurecht geächteten Streumunition, die für die ukrainische Offensive gegen die großen russischen Verteidigungsanlagen nützlich werden könnte.
Bringen die F16 die Wende? Nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms am Dnipro wird eine weitere Katastrophe um das größte AKW Europas Saporischschja befürchtet, nichts mehr wird ausgeschlossen. Die Intensität des Krieges könnte nicht grösser sein. Die militärischen Steigerungen nehmen zu.
Putin spielt offenbar mit der Zeit eines Zermürbungs- und Zerstörungskrieges. Beide Seiten wollen ihn mit aller Kraft gewinnen. Russland, das man nie unterschätzen darf, spekuliert darauf, die Widerstandskraft des ‚kollektiven Westens‘ (so spricht man in Russland) auf die Dauer zu schwächen. In den USA sind nächstes Jahr Wahlen. Es ist rational und klug, wenn die Nato jetzt der vorsichtigen Leitung Amerikas folgt.
Ohne Biden befänden wir uns im Weltkrieg. Für ihn sollten wir eine Lanze brechen. Wir können nur mit Bangen nach Amerika blicken. Die Republikaner sind nicht mehr die Partei des verstorbenen Patrioten John McCain, der Obama zu seinem Sieg noch gratulierte, obschon das seinen eigenen Anhängern missfiel.
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