Beharrliche Demokratiearbeit

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Kaum sind die Plakate für die Kommunal – und Europawahlen am 9. Juni abgenommen, hängen Ende Juli schon wieder die Plakate für die Landtagswahlen im September, in Brandenburg am 22. September, drei Wochen nach Thüringen und Sachsen. 

Die blauen Plakate hängen diesmal in Potsdam besonders hoch an den Laternenmasten, mit Leitern angebracht. „Wer Woidke will, soll SPD wählen“. „Brandenburg braucht Größe“, so auf einem übergroßen Plakat mit Woidke am Platz der Einheit. „Es geht um Zusammenhalt“. Besseres fällt der Partei nicht mehr ein, nachdem schon das letzte Mal Woidke, die Eiche im brandenburgischen Sand, knapp dafür gesorgt hatte, dass die AfD nicht stärkste Kraft im SPD-Land (Stolpe, Platzeck) wurde.

Das galt schon als Erfolg und wird sich nicht wiederholen. Die Grünen, die in der Kenia-Koalition mitregieren, sagen auf ihren Plakaten „Ja zu einem Brandenburg nazifrei“; sie sind für „gelebte Integration“. ‚Die Linke‘ ist für „Wohnen ohne Sorgen“. Daneben lesen wir „Es ist Zeit für sichere Grenzen!“(AfD). 

Und die AfD setzt dazu: „Es sei Zeit für einen mutigen Landesvater“ mit ihrem Spitzenkandidaten Berndt, der von der Dresdener Pegida-Bewegung und ‚Zukunft Heimat‘ in Cottbus, also von der ‚Politik der Straße’, herkommt. Schon bei seiner Antrittsrede in Cottbus erwähnte er ausdrücklich zum ersten Mal ebenso die rechtsextremen publizistisch-intellektuellen Unterstützungsorgane „Sezession“ und „Compact“, die im Hintergrund für den theoretischen Austausch sorgen. 

Nach dessen Verbot hat sich der Laborarzt Berndt im Namen der Meinungsfreiheit sofort vor Jörg Elsässer gestellt. Das Verbot der Innenministerin, das vor Gericht scheiterte, war Wahlhilfe für die AfD. Diese Kreise sehen die AfD als „verlängerten parlamentarischen Arm einer rechten Umsturzbewegung“ (Kubitschek). So weit ist die Radikalisierung inzwischen gediehen, vor der frühzeitig gewarnt worden ist („Flügel“). 

Die AfD liegt gegenwärtigen Umfragen zufolge immer noch an der Spitze vor der SPD und der CDU, die gleichauf zurückliegen, obwohl sie seit September 2023 erheblich an Stimmen einbüßte, wo sie über 30 % erreichte. Dazwischen lag, nach den Correctiv-Enthüllungen über Remigrationspläne in Neu-Fahrland, die aufschreckten, eine breite bundesweite Mobilisierung gegen Rechts, die vor allem ein empörter Kampf gegen die Rechtsradikalisierung der AfD war. 

Die einen forderten ein Parteiverbot, für andere war es ein Schub, wegen und gegen die AfD zur Wahl aufzurufen. Es wurde wieder breit an die Selbstverständlichkeit erinnert, dass Wählen zwar nicht die einzige, aber die wichtigste Bürgerbeteiligung ist. Für die Wahl trägt man eine politische Verantwortung, die Nicht-Wähler sollen nicht die größte Partei bleiben. 

Das ausschlaggebende Argument von Ministerpräsident Woidke lautet, dass er die Regierung nicht in die Hände dieser AfD, die vor allem eine ‚schlechte‘ Partei ist, geben will. Er verweist dabei auf die gute wirtschaftliche Entwicklung des Landes und bekommt politische Unterstützung von der Wirtschaft wie noch nie, die um Fachkräftemangel fürchtet. Er verzichtet dabei sogar auf gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Bundeskanzler Scholz, der für Potsdam im Bundestag sitzt. Das ist sehr bezeichnend für den gegenwärtigen problematischen Zustand der Parteiendemokratie in Deutschland. 

Die Unternehmerverbände haben bereits 2023 in deutlichen Worten auch in Südbrandenburg vor der AfD gewarnt. Vom neu gegründeten BSW werden in Brandenburg Plakate wie in Thüringen und Sachsen hängen, die sich auf den Ukraine-Krieg beziehen: „Diplomatie statt Kriegstreiberei“. „Mehr Mundwerk als Handwerk“, kommentiert der bodenständige Woidke treffend. 

Die Anti-Ukraine Stimmung in Ostdeutschland wächst, angeheizt von AfD und BSW. Ministerpräsident Kretschmer fordert von der Bundesregierung sogar die Kürzung der Mittel bei der Unterstützung des Verteidigungskrieges, der sich in einer entscheidenden Phase befindet. Ausgerechnet der Populist wirft der Regierung vor, das „Land den Populisten auszuliefern“ (n-tv). 

Das stimmt insofern, als die Regierungsparteien während Jahren den Mehrheitswillen (vor allem gegenüber der defizitären Migrationspolitik) der Wähler ignoriert haben, einschließlich der CDU, bis die AfD zu einer Großpartei wachsen konnte, ohne viel dafür liefern zu müssen, nicht einmal kommunalpolitisch. Man sieht, was inhaltlich aus dem Populismusvorwurf und der Ausgrenzung geworden ist: das tiefste Niveau wirklicher demokratischer Auseinandersetzung um das zu Klärende, Schwierige und Strittige ist mittlerweile erreicht worden. 

Die staatstragenden Parteien CDU und SPD flirten derweil schon mit dem BSW für künftige Regierungskoalitionen. In Sachsen erreichen die Ampelparteien insgesamt nicht viel mehr als 10%, und Thüringen steht vor großen Veränderungen. „Die AfD ist die Rache der Ostdeutschen“ (Castorf), meint der Theatermann sarkastisch. Er müsste noch den schnellen Erfolg von Wagenknecht mit ihrer neuen (Kader-)Partei hinzufügen. 

In einer Diskussion in Leipzig musste sich Verteidigungsminister Pistorius von Linksradikalen Vorwürfe der Kriegstreiberei gefallen lassen, denen er argumentativ zu begegnen suchte, was verunmöglicht wurde: „Wenn das die Zukunft der Demokratie ist, dann gute Nacht! ? (Focus online, 23.7.). Solche Beispiele lassen sich leider viele aufzählen, nicht nur im Wahlkampf, sondern auch – ideologiebedingt – an Universitäten, dem eigentlich handlungsentlasteten Ort des freien Diskurses. 

Niederbrüllen rettet jedoch die liberale Demokratie nicht, auch gegen Demokratiefeinde nicht. Gerade auch über Demokratie, diesen seit je kontroversen und komplexen Begriff, muss man sich vernünftig auseinandersetzen können. Reden kann und soll man außerdem mit jedem, der menschlichen Grundrespekt entgegenbringt (oder gibt es auch hier eine Demophobie?). 

Dirk Neubauer, der bekannteste Landrat Mittelsachsens gibt auf – nicht nur wegen der Bedrohungen durch die ‚Freien Sachsen‘, die „verboten gehören“–, sondern vor allem wegen der mangelnden demokratischen Unterstützung seiner Arbeit (so die persönliche Erklärung auf X, 23. Juli), die auf „Bürgerbeteiligung“ gesetzt hatte (siehe dazu sein bekanntes Buch „Rettet die Demokratie! Eine überfällige Streitschrift, 2021). 

Zuvor schrieb er ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Wir sind das Problem“ (2019). Das ‚Wir‘ ist innerhalb demokratischer Vielfalt kompliziert und anstrengend, und meist nur vorübergehend und fallweise politisch („Mehrheiten gewinnen“) existent. Es ist nicht in Stein gemeißelt. 

Welches WIR ist gemeint? Wie kommt es zu Beschlüssen? Wann sind die Beschlüsse demokratisch legitimiert? Und wie werden sie durchgesetzt? (Die Implementierungsfrage). Das sind alles andere als akademische Fragen, die im Kleinen wie im Großen ihre Berechtigung haben, betreffen sie doch die zentrale Frage der Legitimitätspolitik. Aber das schert die Anti-Demokraten nicht. 

Mit Neubauer verschwindet eine wichtige demokratische Stimme aus dem Osten, die sich für die Demokratie der Bürger und gegen extremistische Demokratiefeinde starkmachte. Die rechtsextremen ‚Freien Sachsen‘ vertrieben Neubauer aus seinem Wohnort. Ihre Politik der Einschüchterung und Bedrohung bis ins private Umfeld hinein war erfolgreich. 

Solche Jagdszenen, die Amtsträger insbesondere auf kommunaler und regionaler Ebene zu Freiwild werden lässt, betreffen den elementaren Schutz eines angstfreien Lebens und Politisierens von allen. Vieles an verbalen Entgleisungen, Beleidigungen und Beschimpfungen in politischen Auseinandersetzungen kann und darf heute unter dem grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit passieren – solche lebensbedrohende Exempel, die sich häufen, jedoch nicht! 

Sie zerstören die elementaren Grundlagen demokratischer Politik. Der 53-jährige Neubauer weiß, wovon er spricht. Ab 2013 war er Bürgermeister von Augustburg, wo er sich für mehr Bürgerbeteiligung eingesetzt hat. Heute sagt er zu Recht: „Alle Welt spricht von Bürgerbeteiligung, aber es kommen zu wenige“ (ZDF). „Ich gebe auf, weil da draußen viel zu viele den Mund halten“ (FAZ, 25. Juli, S.3). 

Zweitens zeigt er sich enttäuscht darüber, dass in Kommunalparlamenten und Kreistagen „eine große konservative Mehrheit gegen alles ist, was nötig ist“(a.a.O.). Er setzte sich für die Bezahlkarte für Flüchtlinge ebenso ein wie die Herstellung von Solarmodulen. Und drittens folgt die bekannte strukturelle Klage (die parteiübergreifend von vielen Bürgermeistern seit Langem geteilt wird) gegenüber der Landes – und Bundespolitik: „Die kommunale Ebene sei finanziell am Ende und könne kaum noch handeln.“ 

Das relativiert demokratietheoretisch natürlich alle noch so gut gemeinten und oft originellen Projekte mit kommunaler Reichweite. Die Demokratie der Bürger (demos) ist seit je lokal verankert, nahe bei den (Stadt-) Bürgern, so nicht zufällig der Anfang ihrer Geschichte bei der griechischen Polisdemokratie und weitergehend bis heute in der transnationalen Politik der Städte. 

Dort, in den Städten, beobachten wir wieder, wo es gut läuft, eine zweite Ausdifferenzierung der Bürgerbeteiligung. Soll heißen: Bürgerbudgets, Stadtteilräte, Ortsbeiräte, verschiedene Räte und Foren… kurzum: in verschiedenen Stadtteilen läuft viel, es gibt spontane und überzeugte Beteiligung, ohne dass dazu aufgefordert werden muss. Sie hängt an der Identifikation mit dem Ort. Der genius loci und die Orte mit ihren Personen, die man kennt, sind inspirierend.

Dabei ist zu unterscheiden zwischen Ort (als Sozialraum, Dorf, Stadt, Region, Land) und Örtlichkeiten (Dorfkneipe, Cafés und Restaurants, Sportplätze, Jugendzentren, öffentliche Bibliotheken, Bürgerhäuser, Freiland u.v.a.). Beides zusammen hat den Effekt von ‚Heimat‘, die essenziell ist für die menschliche (insbesondere kindlich-jugendliche) Entwicklung. Sie ist der Ort der Geschichten, die Identitäten für das Leben prägen. 

Auch Neubauer hat – wie viele andere – mit dem „Denkwerk Ost“ eine Mitmachplattform jenseits der Parteigrenzen aufzubauen versucht. Damit wollte er richtigerweise der schwachen Präsenz der politischen Parteien in Ostdeutschland ergänzend und bewegend etwas zur Seite stellen. 

Schon diesbezüglich ist freilich die ebenso hartnäckige wie tolerante Kooperation von verschiedenen Einzelnen nötig. Sie erfordert eine minimale Anstrengung, die keineswegs selbstverständlich ist, wenn sie nicht schon zum Selbstverständnis der Menschen gehört. 

Als Graswurzelbewegung sollte so etwas weiterhin möglich bleiben, ja schrittweise ausgebaut und erhalten werden. Dabei ist zeitlich, sozial und sachlich pfleglich miteinander umzugehen. Und lasst die Leute frei reden! Das gelingt bisher nur sehr überschaubar, nicht nur in Sachsen. In Thüringen gibt es inzwischen immerhin einen Anfang mit dem „Weltoffenen Thüringen“. 

Selbst in Brandenburg, wo seit 1998 das „Tolerante Brandenburg“ existiert, in Reaktion auf die damals manifeste, fast alltägliche fremdenfeindliche Gewalt der 90er Jahre (die sogenannten „Baseballschlägerjahre“), verhindert auch der zweite Anlauf von „Brandenburg zeigt Haltung“ (2024) Vorfälle wie den jüngsten rassistischen Angriff in Cottbus im Juli auf die CDU-Politikerin Amwo nicht:  Ihr seid keine Menschen“, woher kommen solche Sätze? 

Die elementaren Toleranzräume liberaler Demokratien müssen vielmehr in kontroversen Gesprächen ständig geübt und verteidigt werden, da sie selbst in Wahlkämpfen nicht selbstverständlich geschützt sind. Das haben wir schon in den 90er Jahren erfahren und erfahren es 2024 wieder, weshalb beharrliche Demokratiearbeit in Bündnissen das Gebot der Stunde bleibt. 

Neben diese defensive unspektakulär alltägliche Arbeit potenziell von und für alle kommt eine offensive Dimension der Vorwärtsverteidigung der Demokratie hinzu, die vielgestaltig ist. Sie ist parteipolitisch und medial auffällig, wenn es um demokratisches Regieren, schwierige Regierungs- und Koalitionsbildung, Kanzlerfragen, grundsätzliche Fragen der Parteiendemokratie usw. geht. 

Sie ist aber immer noch viel zu wenig bekannt und geschätzt in Bezug auf die wachsende, durchaus vielfältige Demokratie der Bürgerinnen und Bürger, die ausbaufähig ist. Diese ist aus dem Aufmerksamkeitsschatten zu holen und darf zugleich nicht von Anfang an mit zu großen Erwartungen („Vorbilder der Demokratie!“ ist zu viel gesagt) überfrachtet werden. 

Der interne Zusammenhang von (falschen) Erwartungen und (schnellen) Enttäuschungen ist bei der nötigen Beharrlichkeit zu beachten. Ansonsten wird sie nicht einmal beginnen. Realismus, Selbstreflexion und Korrektur sollten auch und gerade die kleinen experimentellen Schritte begleiten. 

Für diese selbstbestimmte Reflexion der Beteiligten bleibt oft zu wenig Zeit und Raum. Dafür kauft man sich dann von der Politik und der Verwaltungsseite aus lieber teure wissenschaftliche Evaluationen, deren Evaluation wiederum ausbleibt. So kann eigenständige Bürgerqualifizierung, die in die Breite geht, nicht stattfinden.

Vielfältige Demokratie

Die Petition „Vertrauen stärken, Beteiligung ausbauen“ (Juli 2024, initiiert von mitMachen e.V. und Mehr Demokratie e.V.) fordert von der künftigen Landesregierung und dem neuen Landtag in Brandenburg ein starkes Demokratie-Paket. Es bezieht sich vor allem auf vier Punkte: 

– Beteiligung 
– Direkte Demokratie 
– Transparenz und 
– Demokratieförderung 

Ansätze zur Erweiterung der Beteiligung sind aufsuchende und losbasierte Beteiligung sowie ein digitales Portal, um Gesetzentwürfe diskutieren zu können. Unnötige Barrieren der direkten Demokratie sind abzubauen, das Verbot der freien Sammlung von Unterschriften ist zu beseitigen, und die Ablehnung eines unzulässigen Volksbegehrens ist zu begründen. 
Benötigt wird sodann ein Transparenzgesetz, das modernen Ansprüchen genügt. 
Starke landesweite und kommunale Demokratieprojekte wie beispielsweise in der Jugendbeteiligung, Bürgerbudgets oder Toleranzräume sind zudem längerfristig besser abzusichern. 

Auf Bundesebene befürworteten vor Kurzem noch alle demokratischen Parteien, außer der CDU, die hier konsequent blieb, die modernen Instrumente der direkten Demokratie, wie sie im Kanton Zürich im 19. Jahrhundert durch die demokratische Bewegung gegen das ‚System Escher‘ erfunden worden sind. 

Die bundesrepublikanische Scheu vor dem Volk (Demophobie) sitzt tief. Die Kanzlerpartei CDU befürchtet seit je die „Unregierbarkeit“ (Rupert Scholz), und selbst die ehedem basisdemokratischen Grünen haben die direkte Demokratie auf Bundesebene, enttäuscht und resigniert, zugunsten von losbasierten Bürgerräten im neuen Grundsatzprogramm verabschiedet. Das ist jedoch eine weltfremde Illusion. 

Sie eröffnet vielmehr populistischen und technokratischen Argumenten und Bewegungen Räume und Möglichkeiten, die Probleme demokratischen Regierens zu umgehen – vor allem national und europapolitisch bei großen Fragen (Kleger 2018). Solche schwierigen Baustellen, die langwierig und anstrengend sind, darf man deshalb nicht aufgeben, da sie in kleineren Größen nicht zu kompensieren sind (siehe die ehemalige Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff: Muss man die direkte Demokratie fürchten? 2023), auch wenn man grundsätzlich wiederum gerade aus demokratietheoretischen Gründen für kleinere politische Einheiten optiert (Jörke, Die Größe der Demokratie, 2019). 

Auf kommunaler Ebene sind die Beteiligungsangebote in den letzten 15 Jahren zahlreicher und vielfältiger geworden. Am ‚Newsletter für Bürgerbeteiligung‘ in Potsdam beispielsweise lässt sich das ablesen. Vielen ist das Meiste gar nicht bekannt. Die Angebote sind also noch besser zu verbreiten, effektiver miteinander zu verschränken und gezielter auszubauen. Das gilt auch für die Verschränkung digitaler Möglichkeiten (Potsdam Lab, digitale Beteiligungsplattform) mit analogen Angeboten. 

Neue Formen, etwa ein Beteiligungsrat oder Bürgerräte, sind dabei in bereits bestehende Formen der Bürgerbeteiligung, etwa die ’strukturierte Bürgerbeteiligung‘, aufzunehmen (siehe den Blog: „Was heißt strukturierte Bürgerbeteiligung?“ 19. Januar 2021). Es handelt sich insgesamt um den Versuch, Bürger und Bürgerinnen, auch abseits von Parteien und Parlamenten besser und effektiver zu beteiligen. 

Der Bürgerrat von Malchin, einer Kleinstadt im Landkreis Mecklenburger Seenplatte, war der Erste in Mecklenburg-Vorpommern (NDR, 3.7.). Ende 2023 setzten sich 19 zufällig ausgewählte Bürger zusammen, von denen das Stadtparlament Vorschläge für eine bessere Energieversorgung erarbeiten ließ. 

Ende April 2024 legte der Bürgerrat seine Empfehlungen vor, die von allen Seiten, auch vom Bürgermeister positiv bewertet wurden. Interesse und Ergebnis überraschten. Demokratie im Allgemeinen, das gilt für alle Formate, ist primär verfahrensorientiert, was Disziplin und Geduld (Zeit) erfordert. 

Sie soll und muss aber auch Ergebnisse zeitigen, mithin zu einem Abschluss/Beschluss kommen, über die man wiederum streitbar verschiedener Meinung sein kann. Und mit den Ergebnissen muss überprüfbar etwas passieren. Diese Verbindlichkeit ist notwendig, denn frustrierende Leerläufe, die Zeit und Nerven der freiwillig Beteiligten verschwenden, sind Gift für alle weiteren Versuche einer Demokratie der Bürger. Für sie ist per definitionem der Verfahrenskonsens obligatorisch. 

Für das Konstrukt ‚Bürgerrat‘, auch im Falle von Malchin, ist zudem eine professionelle Moderation und eine Mindestqualifizierung der ‚gelosten engagierten‘ Bürger, was ein Widerspruch zu sein scheint, durch Fachvorträge u.a. zwingend. Und das kostet Geld, was häufig übersehen wird, was keine Lappalie für die Kommunalfinanzen ist. Siehe dazu die Stellungnahme des Beteiligungsrates der Stadt Potsdam zur Einführung von Bürgerräten vom April 2024 (vgl. Newsletter). 

Es sind jedoch, obwohl ein Beizug von Experten und Professionellen der Bürgerbeteiligung stattfindet, keine Expertenräte (wie der Wirtschaftsrat, Digitalisierungsrat, Klimarat, Gestaltungsrat u.a.) sowie die meisten Beiräte. Je umfassender die Ebene (national, europäisch), umso stärker ist dies der Fall. 

Dies entwickelt sich dann in Richtung Expertokratie und Lobbyismus, die sich immer mehr verselbstständigen. Sie ersetzen Demokratie als umständlichen und zeitraubenden Prozess. Wo Bürgerschaften resignieren und Parteien versagen, regieren in der Folge nicht zufällig und häufig Technokraten. Siehe dazu auch den Blog die ‚Räterepublik‘ der Beiräte vom 20. September 2023. 

Demokratiepolitik ist kein Modethema

Neben dieser vielfältigen Demokratie im Kleinen, die mutiger und effektiver mit der Ebene von Parlamenten, Parteien und Regierungen verknüpft werden kann (kombinatorische Demokratie), gibt es andere Baustellen der Demokratiepolitik. 

Ohne hier Vollständigkeit beanspruchen zu wollen, sei auf zwei aktuelle Beispiele hingewiesen, die große Relevanz für die moderne (Massen-)Demokratie haben: die Wahlrechtsreform und der Schutz des Verfassungsgerichts.

Die Herzkammern der Demokratie (der Bürger) sind die Kommunen und die Parlamente auf den verschiedenen Ebenen. Der Bundestag gehört zu den größten Parlamenten der Welt, er soll deshalb verkleinert werden. Die Wahlrechtsreform am 17. März 2023 wurde vorher jedoch im Bundestag nicht konsensuell abgestimmt.

Die Partei ‚Die Linke‘ spricht stattdessen von einer „Verkleinerung der Opposition“ und der vormalige Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble von einer „Verfälschung des Wählerwillens“. Das wirkt verheerend in einem föderalen Bundesstaat, im Süden wie im Osten, wo ohnehin schon das Vertrauen in Politik schwindet. 

Gegen die parlamentarische Mehrheit kann beim Verfassungsgericht jedoch geklagt werden in einer rechtsstaatlichen gewaltenteiligen Demokratie. Das tun die beiden ungleichen Partner ‚Linke‘ und CSU. Beide sehen sich in ihrer parlamentarischen Existenz bedroht. Es geht um die Grundmandatsklausel. 

Die CSU beispielsweise würde keinen Parlamentssitz erreichen, auch wenn sie in allen 46 Wahlkreisen das Direktmandat gewinnt, aber bundesweit unter der 5%-Hürde bleibt. Und die Linke war im Parlament lediglich vertreten, mit 39 Mitgliedern der Fraktion, weil sie mit Gysi, Lötzsch und Pellmann drei Direktmandate im Osten, in Berlin und Leipzig, gewonnen hatte. So sah man Dobrindt und Gysi gemeinsam vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe. Auch das gehört zur beharrlichen Demokratiearbeit. 

Das Direktmandat hat eine besondere demokratietheoretische Bedeutung gerade in einem zunehmend erstarkenden Parteienstaat, der kritisch gesehen wird. Das persönliche Verhältnis vor Ort zu den Bürgern im Wahlkreis spielt hier die Hauptrolle. Unstrittig ist, dass, wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erzielt, ins demokratisch gewählte Parlament einzieht. 

Diese Politiker/innen genießen ein besonderes Vertrauen und sind oft auch die unabhängigen Köpfe in den Parteien und Fraktionen. Sie bilden insofern ein Korrektiv gegen ein parteienstaatliches Übergewicht, das mit seinen Machtkämpfen um Listenplätze zum bekannten Politiker- und Parteienverdruss beigetragen hat, was zu oft auch schon auf der kommunalpolitischen Ebene auffällig wird. 

Am 31. Juli 2024 steht das Urteil aus Karlsruhe fest: Die notwendige Verkleinerung des Parlaments von 733 auf 630 Abgeordnete wird bestätigt, die Aufhebung der Grundmandatsklausel ist jedoch mit dem Grundgesetz unvereinbar. Das ist ein kluges Urteil. Der politische Streit um die Wahlrechtsreform geht derweil weiter. 

Einig ist man sich hingegen bei der grundgesetzlichen Absicherung des Verfassungsgerichts nach den Erfahrungen mit parlamentarischen Mehrheiten in Polen und Ungarn, die liberale Institutionen kapern können. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, sie sollte auch ins Grundgesetz. 

Bei aller Ampelkritik ist hier die CDU kooperativ dabei, was ein gutes Zeichen politischer Kultur ist. Die Verfassung und die Verfassungsgerichte, auch auf Länderebene, sind ein Schatz für den Konsens der Demokraten, mit dem pfleglich und zugleich aktiver als erfahrene und begriffene Demokratie umzugehen ist (ausführlich Kleger 2021). 

Die Parlamentsmehrheit, die jeweilige regierende Mehrheit als politische Macht, kann durch den „Hüter der Verfassung“ (Kelsen 1931) korrigiert werden, was demonstriert, wie wichtig die Gewalten- und Machtteilung für die rechtsstaatliche Demokratie ist. Montesquieu spricht von der „ewigen Erfahrung“, „dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt.“ 

Worauf der ebenso erfahrungsgesättigte kluge Satz folgt: „Sogar die Tugend hat Grenzen nötig“ (Vom Geist der Gesetze, De L’Esprit des Loix 1748, Stuttgart 1994, S.215). Der demokratische Verfassungsstaat ist sowohl ein Experiment der Freiheit als auch der Wahrheit

Innerhalb der komplexen Orientierungsfigur ‚verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft‘ gibt es weder eine perfekte Demokratie noch letzte Urteile. Wohl gibt es Autoritäten wie Gerichte, die anzuerkennen sind, aber das weitere verantwortungsvolle Urteilen ist letztlich an keine Autorität gebunden. Das heißt Bürgersouveränität. 

Auch der amerikanische Präsident Biden legt Ende Juli einen Reformplan für den Supreme Court vor, was progressive Demokraten schon lange fordern. Das Urteil zur „Immunität des amerikanischen Präsidenten“, das politisch hochbrisant ist, gab wohl den letzten Anstoß. 

Die konservative Richtermehrheit stellte damit faktisch den Präsidenten über das Gesetz in einer ohnehin schon starken präsidentiellen Demokratie. Trump könnte Ende 2024 den friedlichen Machtwechsel, der grundlegend ist für jede Demokratie, wieder torpedieren. Was für ein Vorbild für die Welt! 

Biden nimmt zu Recht auf die Gründerväter einer langen und vorbildlichen Verfassungstradition (17. September 1787, 15 Seiten) Bezug: „Wir sind ein Land der Gesetze, nicht der Könige und Diktatoren“. Die Amtszeit der 9 Richter soll auf 18 Jahre reduziert werden. Präsident Trump konnte in seiner Amtszeit durch umstrittene Winkelzüge drei Richterposten neu besetzen, was politisch folgenreich war. 2022 kippte das Oberste Gericht das landesweite Recht auf Abtreibung, was jetzt wieder ein zentrales Wahlkampfthema wird. 

Bidens Reformplan hat jedoch wenig Aussicht auf Erfolg, so notwendig er ist. Er benötigt eine Zweidrittelmehrheit in beiden Parlamentskammern (Senat und Repräsentantenhaus) und muss zusätzlich in drei Vierteln der Gliedstaaten ratifiziert werden. Die historische Pfadabhängigkeit politischer Systeme ist groß, es braucht überraschende neue Koalitionen, um dies ändern zu können. 

Das anspruchsvolle Zweikammersystem, welches den politischen Prozess erheblich kompliziert, hat die kleine Schweiz als einziges Land in Europa im 19. Jahrhundert übernommen (Nationalrat und Ständerat, Ständemehr und Volksmehr). Es stellt die Demokratie vor schwierige Herausforderungen bei der Wahrung von Vielfalt in einer politischen Einheit. 

Die Demokratie ist einerseits eine Lösung für viele Probleme, andererseits verursacht sie ebenso Probleme, die immer wieder neu gelöst werden müssen, gerade in einem weitgehend dezentralen föderalistischen und direktdemokratischen System mit Sprachenfreiheit. Mehr Demokratie kostet immer mehr Anstrengungen von vielen Verschiedenen. 

Es ist fürwahr eine komplexe Demokratie voller Widersprüche und Konflikte. Eine ‚vollendete‘ Demokratie gibt es nicht. 


Literatur
Kleger/Klein (Hg.): Demokratiepolitik: Neue Formen der Bürgerbeteiligung als Demokratiestärkung. Wiesbaden 2024 
Kleger: Demokratisches Regieren. Bürgersouveränität, Repräsentation und Legitimation, Baden- Baden 2018 (Nomos) 
Ders.: Leitsätze der Verfassung statt Leitkultur, in: Heinz Kleger, Gedankensplitter ll, Norderstedt 2021, S.182-223 
Ders.: Erfahrene und begriffene Demokratie, a.a.O., S.286-302 
Lübbe-Wolff, Gertrude: Demophobie: Muss man die direkte Demokratie fürchten? Frankfurt am Main 2023 
Jörke, Dirk: Die Größe der Demokratie, Berlin 2019 
Newsletter der Bürgerbeteiligung. Mitreden in Potsdam, monatlich 2015ff 
Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg (Simon, Franke, Sachs), Stuttgart u.a. 1995 
Verfassungsblog Thüringen 2009 ff

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