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  3. Author: Heinz Kleger
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Heinz Kleger, Prof. Dr. phil., geb. 1952 in Zürich, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrte 1993-2018 Politische Theorie an der Universität Potsdam, 2004-2008 auch an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Preiserhöhungsstrategie

Am 18. Tag des Krieges konzediert der Chef der Nationalgarde Solotow, ein enger Vertrauter Putins, militärisch langsamer als geplant voranzukommen. Nichtsdestotrotz wird das Zerstörungswerk grösser und greift auf alle Landesteile des größten Landes in Europa aus, was unvorstellbar schien – eine irre Logik der Gewalt des Stärkeren.

Die Belagerung und Aushungerung der Städte erinnert ans Mittelalter. Ihre Zerstörung ist ein Zivilisationsbruch. Die Fluchtbewegung aus dem Land ist die größte seit dem 2. Weltkrieg. Die Verhandlungen, die am 14. März in die vierte Runde gehen, haben bislang keine Ergebnisse erzielt, sogar die Einrichtung von Fluchtkorridoren ist gescheitert. Vor allem Mariupol, die Hafenstadt am Asowschen Meer (440 000 Einwohner), benötigt dringend eine Feuerpause (Rotes Kreuz): „So sieht Apokalypse aus“.

Es zählen nur noch die Kriegstage

Der Krieg geht mit unverminderter Härte weiter. Niemand konnte bisher Putin stoppen, obwohl der Krieg täglich brutaler wird. Es zählen nur noch die Kriegstage.

Überall ist jetzt Front, selbst im Westen der Ukraine, kurz vor der Nato-Grenze. Kommt es in Kiew zur Entscheidungsschlacht? Die ukrainische Seite spricht von Belagerungszustand. Was kommt danach? Lediglich eine totale Zerstörung wird Kiew einnehmbar machen, so Selenskyj. Wann hört Putin auf? Unter welchen Bedingungen?

Unfriedliche Koexistenz

Das Außenminister-Treffen in der Türkei ist am 10. März ergebnislos geblieben, nicht einmal eine 24-stündige Waffenruhe konnte vereinbart werden. Der Krieg geht mit unverminderter Härte weiter, jede Seite will und muss im Kriegsgeschehen Vorteile erzielen.

Lediglich eine Plattform für künftige Gespräche ist geschaffen worden, die beide Seiten nicht ablehnen, aber Kompromisse auf dem Weg zu einem Frieden sind noch in weiter Ferne. Immer mehr Menschen begeben sich derweil auf eine gefährliche Flucht, während die russische Armee die großen Städte bombardiert: Mariupol ist „die Hölle auf Erden“ (Melnyk am 10.3. in Berlin).

Wie geht es mit dem Krieg weiter? Zu welchem Frieden kann es kommen?

Ist der Krieg noch zu gewinnen für die ukrainische oder die russische Seite? Wie geht die Entscheidungsschlacht um die Festung Kiew aus? Selenskyj will in der Hauptstadt bleiben,
die Kampfmoral des ukrainischen Widerstands ist ungebrochen, der Orts- und Häuserkampf wird einen hohen Blutzoll erfordern, wie alle Militärs wissen; „hässliche Kämpfe“ stehen bevor (CIA, 9.3.).

Wird Putin sein Kriegsziel erreichen? Es gibt Probleme, logistische und solche aufgrund der militärischen Gegenwehr, aber kein Desaster für seine Armee. Das russische Fernsehen zeigt unaufhörlich Siegerbilder. Der Wirtschaftskrieg kann den akuten Krieg nicht stoppen, so schlimme Folgen er hat. Präsident Biden beschließt jetzt auch ein Ölembargo. Wird Deutschland nachziehen? Täglich werden in Zeiten des Krieges so genannte rote Linien überschritten, man kann nichts ausschließen.

Der neue Krieg

Am 7. März sind die Kämpfe vor Kiew angekommen, die Vororte Irpin und Butscha werden verstärkt beschossen. Die Einnahme der Hauptstadt als Schlüsselschlacht und die Auswechslung der Regierung ist das Hauptziel von Putins Krieg, vorher wird man mit ihm nicht wirklich reden können.

Auch am 7. März wird verhandelt, um eine Waffenruhe für die Einrichtung humanitärer Korridore zu erreichen. Das ist dringlich. Die Städte werden umzingelt und eingeschlossen. Das Schlimmste steht noch bevor. In Syrien hat Putin, offiziell im Krieg gegen islamistische Terroristen, seit September 2015 neue Waffensysteme getestet – unter Inkaufnahme größter Zerstörungen in Aleppo und Idlib, darunter Schulen und Kliniken. Für Putin war diese Strategie erfolgreich: Russland ist zum Machtfaktor in der Region geworden, und die Regierung Assad sitzt fest im Sattel. Diese Auseinandersetzung mit den USA hat Putin gewonnen. Was wird, wenn Putin wieder gewinnt?

„Fällt die Ukraine, fällt Europa“

Die russischen Truppen rücken weiter nach Westen vor, so lauten die Schlagzeilen am 5. März. Die Lage der Zivilbevölkerung wird immer schwieriger, und die Fluchtbewegung immer grösser. Die Evakuierungen in Mariupol scheitern. Die Einschließung der 450 000 Einwohner zählenden Stadt über sechs Tage wird unerträglich. Wie schon Grosny erinnert mich die Größe dieser Stadt an meine Heimatstadt Zürich.

Barbarei und Widerstand

Der 3. März wird ein weiterer schwarzer Tag für die Ukraine. Der Beschuss und die Einschließung der Städte intensiviert sich. Der Vormarsch auf Kiew geht unvermindert weiter. Nach Putin läuft alles „nach Plan“ im Krieg, der in Russland bei Strafe nicht so heißen darf. Putin sieht sich im Recht bei seiner „Spezialoperation“ gegen die „Neonazis“ an der Regierung (3. März).

Er wird die demokratisch legitimierte Regierung Selenskyj nach dem Sturm auf die Hauptstadt stürzen und durch eine autoritäre Marionettenregierung ersetzen. Genau hier liegt seine größte Fehlkalkulation. Danach wird Kiew aussehen wie Grosny und Aleppo. Die Bilder aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, geben davon eine Vorahnung. Ein so großes Land wird man nicht besetzt halten können gegen einen Partisanenkampf aus der Bevölkerung heraus. Nicht einmal der brutale Stalin hat es geschafft, im finnischen Winterkrieg 1939/1940 zu siegen.

Krieg als Kategorie der Politik

Putin zwingt zur Re-Militarisierung. Von Krieg ist wieder allenthalben die Rede, auf allen Ebenen und in verschiedenen Kreisen. Man entkommt diesem Thema nicht, nicht einmal auf Sportplätzen und in Konzerten. Ablenkung ist nur schwer möglich. Gegenüber Krieg kann man nicht neutral sein, höchstens wenn man sich zurückzieht und gar nichts mehr sagt.

Die verdrängte Apokalypse

„Exterminismus ist der äußerste Extremismus.“ Anfangs der 80er Jahre prägte der britische Historiker Edward P. Thompson den Begriff ‚Exterminismus‘ (to exterminate: auslöschen).

Sein Aufsatz trug in Anspielung an eine berühmte Schrift Lenins, die er 1916 in Zürich verfasst hatte, den Titel „Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation“. Der Aufsatz löste eine heftige innermarxistische Diskussion aus und eine noch größere in der damaligen Friedensbewegung. Ich will sie hier nicht referieren.

Aufgewacht in einer neuen Welt

Putins Angriffskrieg zwingt zur Militarisierung. Viele sagen, der 24. Februar sei eine Zäsur in der europäischen Geschichte, sie sind entsetzt und fassungslos.

Putin und seine Bewunderer wollten die EU gerne spalten, und von der Nato war schon lange nicht mehr ernsthaft die Rede, der französische Staatspräsident Macron erklärte sie vor kurzem noch als „hirntot“ und Trump als „obsolet“. Plötzlich ist die EU aber wieder so einig wie selten und die Nato attraktiv selbst für neutrale Länder wie Finnland und Schweden.