„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, so heißt eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin, die bis zum 6. April 2025 im zweistöckigen Bau gezeigt wird. Es bleibt also genug Zeit, zweimal hinzugehen, weil es auch viel zu sehen und noch mehr zu bedenken gibt. Diese Fragen sind noch lange nicht erledigt, sondern bilden vielmehr gerade den Anstoß dieser Ausstellung.
Gibt es ein ‚Wesen‘ der Aufklärung? Solche Wesensfragen sind schwierig, ja unmöglich bei historischen Begriffen. Denn: Welche Aufklärung ist gemeint? Allein schon die historische Einordnung ist schwierig, zumal nach der philosophiehistorischen Forschung, den Editionen, Lexika und Nachschlagewerke, die dazu inzwischen vorliegen. Daraus ergibt sich ein erstaunlich vielfältiges und differenziertes Bild.
Dazu kommt die Zeit nach der Aufklärung (post et secundam), die Lesarten der Dialektik der Aufklärung und der Fortschritt als Orientierungsproblem, welche die historisch-philologische Forschung überlagern und heute so aktuell sind wie je.
Am Anfang der Ausstellung stehen (fast wie üblich) die Büsten der großen Namen: diesmal von Rousseau, Voltaire, Mendelssohn, Locke und Newton. Descartes, Pascal, Bayle, Grotius, Spinoza, Pufendorf u.a. fehlen, da sie im 17. Jahrhundert lebten. Gehört die ‚ Frühaufklärung‘ nicht zur Aufklärung? Und wann beginnt Aufklärung (erst im 18. Jahrhundert?), wann die Frühaufklärung (schon vor dem 17. Jahrhundert?)?
Eine Ausstellung kann freilich nicht alle und alles zeigen. Die Ausstellung in Berlin konzentriert sich auf das 18. Jahrhundert und – im 300. Geburtsjahr verständlich – auf Kant aus Königsberg. Dessen Traktat „Was ist Aufklärung?“ von 1784 ist gut bekannt und wird häufig zitiert, als ob es die einzige Antwort auf diese Frage ist (siehe auch den Blog „Keiner wird verschont“, 14. März 2024). Kant dominiert auch den Büchertisch.
Perspektivwechsel ist notwendig, denn es gibt eine Vielfalt von Aufklärungen, historisch und aktuell. Man kann auch borniert-aufgeklärt in seiner eigenen Gesinnungsgemeinschaft sein und bleiben. Der Fairness halber muss man hinzufügen, dass 20 Statements zur Aufklärung, die niemand auf einmal hören und rezipieren kann, mit zur Ausstellung gehören – Objekte und Interviews also, die zudem von einem reichen Begleitprogramm ergänzt werden.
Die Exponate im 2. Stock überwiegen, das ist auch der anschauliche Teil mit einem originellen Design. Themenschwerpunkte sind Wissenschaft, Religion, Pädagogik, Geschlechtermodelle und das Wissen bzw. die Ordnungen der Welt, wozu nicht nur die großen Enzyklopädien und Universallexika in Leder und Pergament gebunden sowie die Globusse gehören, sondern auch die ’natural history‘ etwa von Buffon (1707-1788).
Das Bild der hugenottischen Familie Reclam (1790), deren Verlag die geniale Reihe der kleinen gelben Büchlein, die in jede Hemdtasche passen, herausgebracht hat, schmückt die Ausstellung (siehe auch unser Titelbild). Verlegern wie Nicolai, Reclam, Meiner, Rowohlt, Unseld, Fischer, Wagenbach u.a. verdankt die Aufklärung viel. Ihre Neugier und unternehmerische Produktivität öffnete Welten für Viele.
Varianten und Wege der Aufklärung
Voltaire weilte von 1750 bis 1753 in Potsdam, im Hotel Sanssouci. Er verkörpert einen Höhepunkt der europäischen Aufklärung. Sein ‚Traité sur la Tolérance‘ (1763) ist ein eindrückliches Zeugnis der Toleranzverteidigung, wobei ihr Horizont ausgeweitet wird.
Im Aufklärungszeitalter kommt es zu einer Öffnung der Welt. Die Fortschritte der praktischen Toleranz, die Voltaire im Kampf um die öffentliche Meinung erzielt, gehen einher mit einer Vergleichgültigung gegenüber ‚Dogmen‘ und ‚Systemen‘.
Voltaire hatte Friedrich II. die Wolffsche Schulphilosophie, die ein solches Denksystem war, ausgeredet. Und Pierre Bayle, der Philosoph hugenottischer Herkunft, den Voltaire bewunderte, hat ihm dies mit seinem moderaten Skeptizismus noch einmal vorgeführt (siehe auch Kleger, Jeder nach seiner Façon, 2012). Es war mutig, dass er 1765 zusammen mit d’Argens eine Auswahl von Bayles subversivem ‚Dictionnaire historique et critique‘ der damaligen Irrtümer herausgab. Heute gibt es, sehr spät, eine solide Meiner-Ausgabe auf Deutsch, Hamburg 2003.
Im Vorwort bezeichnete Friedrich das Werk als ein „Brevier des gesunden Menschenverstandes“ (bon sens) und betonte zurecht, dass es für die Menschen „kein wichtigeres Studium gibt als die Bildung seiner Urteilskraft „(former le jugement). Der Wahrheit kann man durch Anstrengung, zumindest durch die Beseitigung der Irrtümer, näherkommen. Die moderne Wissenschaftstheorie hat das Falsifikationismus genannt (Popper, Logik der Forschung, 1934), womit sie mit dem erkenntnistheoretisch naiven Empirismus des Verifikationismus brach.
Der Redner im öffentlichen Raum dagegen, und wir fügen hinzu: auch die politische Theorie, muss sich mit „Wahrscheinlichkeiten“ begnügen, wir fügen hinzu: Plausibilitäten, und erregt „Leidenschaften“, das ist die heutige Politik der Emotionen (Friedrich, Philosophische Schriften, Bd.Vl, Berlin 2007, S.307-313).
Das passt zur Philosophie einer liberalen Demokratie, die Friedrich freilich nicht im Sinne hatte: „Räsonniert so viel ihr wollt, aber gehorcht“! Laut Kant in Königsberg leben wir mit Friedrich im „Zeitalter der Aufklärung“, aber noch nicht in einem „aufgeklärten Zeitalter“.
Nie war das Verhältnis in der deutschen Philosophie zur französischen Aufklärung inniger, das umfasste auch die Epikureer und radikalen Materialisten in Friedrichs Philosophengarten Sanssouci – vis-à-vis der christlichen Kirche! Was für ein Stachel! Ebenso bezeichnend jedoch ist, dass Mendelssohn und Rousseau keinen Zugang weder zum Garten noch zur Akademie bekamen.
Bayles heute schwer verständliches Wörterbuch war das Vorbild für die große Enzyklopädie von D’Alembert und Diderot (1751-1765) wie für Voltaire kleines leserfreundliches Wörterbuch von 1764, das man heute wieder lesen sollte (und kann). Diderot schrieb den Prospekt für sein großartiges Wissensprojekt 1750.
Mit Voltaire teilte er die Abscheu vor dem Fanatismus, von dem es nur ein kleiner Schritt zur Barbarei sei. Von Diderot stammt auch der Satz: „Der Einzelne kann sich vervollkommnen. Aber die Menschheit als ganze wird weder besser noch schlechter.“ Von einer Geschichtsphilosophie machte er seine Aufklärung nicht abhängig.
Diderot (1713-84) verkörpert einen besonderen Typus von Aufklärung, von dem man sich wünschte, er würde heute wieder mehr verschiedene Menschen motivieren. Es ist kein Zufall, dass Hans Magnus Enzensberger, der sich selbst vom Marxisten zum aufgeklärten Eklektiker wandelte, in seiner ‚Anderen Bibliothek‘ „Die Welt der Encyclopédie“ 2001 wunderschön herausgab und aktualisierte.
Voltaire hat auch drei Jahre in England verbracht. Er rühmte den Handel und Wandel dort, der in Frankreich in Fesseln lag. Voltaires „Lettres anglaises“ (1743) hatten eine große Wirkung auf den Gang der französischen Aufklärung. In diesen Briefen, die in Frankreich verboten waren, rühmte er die Philosophie John Lockes (1632-1704), dessen Wirkung auf die Aufklärung im Allgemeinen unterschätzt wird (The Works of John Locke in ten Volumes, London 1823, Aalen 1963).
Genauso wird der Einfluss der Holländer, die im 17. Jahrhundert als die tolerantesten Europäer galten, sowohl historisch als protestantische Schutzmacht unterschätzt als auch philosophisch (Universität Leiden, die 1575 gegründet wurde) zu gering geschätzt, vor allem in ihrer Wirkung auf die Entwicklung von Berlin-Brandenburg. Pufendorf und sein Schüler Thomasius sind zwar bekannte Namen, aber schon der politische Neostoizismus ist kaum bekannt.
Die Aufklärung in Europa blieb zudem nicht europazentriert. Voltaire relativiert mit seiner Weltgeschichte, die mit China beginnt, erstmals die antik-christlichen Vorstellungen, bei denen die Geschichte jeweils mit Israel begann. Die große Öffnung der Welt war sowohl geographisch, historisch wie sozial. Reisen war das Abenteuer der Zeit, und wer nicht reisen konnte oder wollte, las Reisebeschreibungen. So bildete sich auch der große Systematiker Kant, der zeitlebens nie aus Königsberg hinauskam.
Dafür gab es eine angeregte Tischgesellschaft bei Kant zu Hause wie in Sanssouci bei Friedrich, die im berühmten Gemälde von Adolph Menzel 1850 festgehalten ist. Diese Aufklärung hat viel mit Konversation zu tun, auch in Vereinen, Lesezirkeln und Zeitschriften, welche Aufklärungsideen in die Gesellschaft hinein diffundieren und multiplizieren.
Das Königsberger Stadtgespräch, von dem Kant ein Teil war, und die ‚Berliner Aufklärung‘ um Moses Mendelssohn, einschließlich der jüdischen Aufklärung (Haskala) übten die Sprache der Vernunft . „Wir träumten von nichts als Aufklärung“ (1784) hieß bezeichnenderweise eine andere Berliner Ausstellung dazu im Jüdischen Museum (siehe den Blog vom 20.Juni 2022).
Aufklärung von unten
Über die militarisierte Welt des Adels, in welche große Teile der Bevölkerung ohne jede Selbstbestimmung eingespannt waren, und seine “ Schöngeisterlein“, die dazugehören, schrieb ein anderer Aufklärer.
Freilich einer von unten, der Bauernjunge, Söldner, Deserteur, Salpetersieder, Garn-und Tuchhändler Ulrich Bräker (siehe auch, Kleger, Jeder nach seiner Façon, 2012). Dieser arme Mann aus dem Toggenburg – dem Tal der Thur zwischen Wildhaus und Wil, im heutigen Kanton St.Gallen – hatte 1756 so manches im aufgeklärten „guten Staate“ Friedrich des Großen(!) gesehen, worüber die meisten weder berichten noch schreiben konnten:
„Bald alle Wochen hörten wir nämlich neue ängstigende Geschichten von eingebrachten Deserteurs, die wenn sie noch so viele List gebraucht, sich in Schiffer- und andre Handwerksleuthe, oder gar in Weibsbilder verkleidet, in Tonnen und Fässer versteckt, u.d.gl. dennoch ertappt wurden. Da mussten wir zusehen, wie man sie durch 200 Mann, achtmal die lange Gasse auf und ab Spißruthen laufen ließ, bis sie athemlos hinsanken – und des folgenden Tage aufs neue dran mussten; die Kleider ihnen vom zerhackten Rücken heruntergerissen und wieder frisch drauf losgehauen wurde, bis Fetzen geronnenen Bluts ihnen über die Hosen hinabhingen. Dann sahen Schärer und ich einander zitternd und todtblass an, und flüsterten einander in die Ohren: ‚Die verdammten Barbaren!‘ Was hiernächst auch auf dem Exerzierplatz vorgieng, gab uns zu ähnlichen Betrachtungen Anlass. Auch war des Fluchens und Karbatschens von prügelsüchtigen Jünkerlins, und hinwieder des Lamentierens der Geprügelten kein Ende“ (Ulrich Bräker, Der arme Mann im Tockenburg, Zürich 1993, S.164f.).
In Berlin wagte der unfreiwillige Auslandschweizer die Desertion nicht. Nach der Schlacht bei Lowositz am 1. Oktober 1756, im dritten Schlesischen Krieg, desertierte Ulrich Bräker im allgemeinen Durcheinander, was er in seiner Autobiographie, einer seltenen Quelle von Aufklärung, aus einem anderen Blickwinkel schildert: „Was gehen mich eure Kriege an?“ (A.a.O., S.183-188, S.117). Dem König wollte er das alltägliche Leid des preußischen Infanteristen klagen: „Der gerechte Friedrich wird nicht gegen mich allein ungerecht sein“ (S.168).
Das ist die Utopie des guten Herrschers, die von unten gestützt wird. Seine Wahrheit ist die Gerechtigkeit (Platon). Platons ‚Politeia’/Staat hat viele Philosophen, Diktatoren wie Mussolini und andere, die nicht auf den sensus communis setzten, immer wieder fasziniert und tut es noch. Die ausgemalte politische Utopie als Philosophie platziert und fixiert den Einzelnen totalitär, was dem modernen liberalen Freiheitsverständnis (Constant, Berlin) widerspricht, in dessen Mittelpunkt die individuelle Unabhängigkeit steht.
Als plebejischer Aufklärer – das heißt als Bücherfresser, Selbstdenker und Selbstschreiber – bewunderte der arme Mann aus dem Toggenburg in typischer Weise gleichwohl „Friedrich den Einzigartigen“ und hasste gleichzeitig „die reichen Menschen- und Geldschinder“. Er denkt „überecks und querfeldein“ seine Gedanken, ohne, wie man heute sagen würde, sie meinungsstark zum Ausdruck zu bringen wie opinion leaders, welche die Selbstdarsteller von heute sind. So kommt er ganz bescheiden von den Selbstgesprächen in der Fremde zum Schreiben seiner Lebensgeschichte.
Gleichermaßen – und das ist ebenso typisch für diese Art der Herrschaftskritik des ‚kleinen Mannes‘ – hält er Distanz zu den „starken Geistern“, wie man damals die Vertreter der europäischen Aufklärung nannte, deren Fürst Voltaire war. Daraus entspringt die Unbestechlichkeit seines Realismus, indem er aus seinem Blickwinkel von der Wirklichkeit berichtet, wie es Voltaire oder Diderot nicht konnten.
Er nimmt wahr, was anderen gar nicht in den Sinn kommt, schon gar nicht den akademischen Philosophen und Intellektuellen: das humane Interesse an jenen, von denen und mit denen niemand spricht. Oder heute auch: mit denen man aus politischen Gründen, als ob sie Aussätzige wären, nicht sprechen darf.
Eine kleine Theorie der Aufklärung
Aufklärung betrifft zunächst das grundlegende Verhältnis zur Wirklichkeit. Aufklärung als Wort ist eine meteorologische Metapher, es geht also darum, unser Verhältnis zur Wirklichkeit aufzuhellen. Es kann aber auch wieder eintrüben und uns orientierungslos in Nebel hüllen und fehlleiten.
Und heute können die Realitäten (sie stehen hier für Wirklichkeit!) buchstäblich in Wort, Schrift und Bild technisch raffiniert manipuliert werden. Solche Wirklichkeitsverzerrungen werden instrumentalisiert, die Gegenaufklärung ist medial in vollem Gange und hält uns in ‚Blasen der Realität‘ gefangen.
Darüber muss heute aufgeklärt werden, Aufklärung ist per se politisch, es gibt einen Streit über Aufklärung, sie muss sich behaupten und ist umstritten. Die Wahrheit ist nicht beliebig, man muss sie sich zutrauen.
Im Zeitalter der Aufklärung und Nachaufklärung gibt es nicht zufällig Gegenaufklärung und Verschwörungstheorien. Dagegen braucht es immer wieder eine neue Aufklärung in handlungskräftigen Bündnissen, um genauer wahrzunehmen, besser unterscheiden und klüger urteilen zu können.
Wir haben genug Vernunft für einen konstruktiven Fallibilismus statt für einen unproduktiven Relativismus der Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. Der Fallibilismus (Peirce) verbindet Wahrheit nicht mit Gewissheit.
Die Philosophie der Aufklärung benötigt dafür zwei Pfeiler, die nicht wegbrechen dürfen:
Erstens hat sie ein „Desinteresse am So-Sein der Wirklichkeit“, das bedeutet „uneingeschränkte Belehrsamkeit durch den Widerspruch der Wirklichkeit, wie sie ist“ (Lübbe, Philosophie als Aufklärung, 1971). Das bedeutet auch ein objektiv-intersubjektives Verständnis von Wahrheit, welches zu deren Entpolitisierung beiträgt.
Aufklärung setzt die theoretische Neugierde frei (Blumenberg 1967).
Zweitens: „Im Aufklärungsprozess gibt es nur Beteiligte“ (Habermas, Theorie und Praxis, 1971). Die historische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts ist zu unterscheiden von Prozessen der Aufklärung anlasshalber, die immer und überall stattfinden können und müssen. Neue Erfahrungen bedingen neue Aufklärungen, gerade auch von unten.
Aufklärung impliziert, wie gesagt, den Streit um die Position der Aufklärung, der heute nach der Aufklärung (post et secundam) einen institutionellen Rahmen benötigt, in Gestalt des demokratischen Verfassungsstaates als Experiment der Freiheit und Wahrheit, der vehement verteidigt werden muss.
Zum aufgeklärten Wirklichkeitsverhältnis gehört, einfach aber schwer:
1. Zur Kenntnis nehmen, was ist, und Weltneugier;
2. die Tugend der Unterscheidung und Genauigkeit bei der
– Beschreibung,
– Beurteilung und
– Bewertung.
Die Beschreibung ist von der Bewertung zu trennen, journalistisch gesprochen: der Bericht vom Kommentar. Für die Beschreibung und Beurteilung sollte man sich mehr Zeit lassen, die Bewertungen erfolgen oft vorschnell in Schubladen mit Etiketten. Das verdeckt oft mehr als es aufdeckt. Es geht um Moral und Wissen.
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