Am 15.Oktober, als die Sondierungskommission den drei Parteien SPD, FDP und Grünen empfiehlt, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, spricht die altneue Fortschrittspartei SPD vom „ersten Schritt zur Regierung des Fortschritts“.
Die Tradition des Fortschritts
‚Fortschritt‘ ist das, was die drei Parteien verbindet, so der Interpretationsvorschlag der Wahlergebnisse durch die stärkste Partei, die den Kanzler stellen wird. Es wäre der vierte sozialdemokratische Kanzler nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Dass das Fortschrittsmotiv noch einmal so zentral werden könnte, überrascht, ist aber nicht mehr unmittelbar verknüpft mit einem „Modell Deutschland“ wie noch bei Schmidt in den 70er Jahren, sondern ist eher eine Reaktionsbildung auf die 16 Jahre Merkel.
Die SPD ist wieder mächtig „stolz“ auf sich, was man verstehen kann, wenn man weiß, dass sie aus einem 15% Keller herauskommt und sich lange genug lediglich hämische Kommentare anhören musste, obwohl sie sich – nach dem damaligen Scheitern der Jamaika-Koalition 2017 – staatspolitisch zuverlässig verhielt und produktiv mitregierte, nachdem zumindest ein Teil der Basis lieber in die Opposition gegangen wäre.
Fortschritt bedeutet für die SPD:
– „Respekt und Zusammenhalt durch einen Mindestlohn von 12 Euro.“
Mit dieser prägnanten Formel über eine lange Zeit hat Scholz den Wahlkampf gewonnen.
– „400 000 neue Wohnungen pro Jahr gegen die steigende Miete“.
– „Eine Kindergrundsicherung als neues Kindergeld“.
– stabile Rente
Zweitens bedeutet Fortschritt:
-Industrielle und technologische Modernisierung:“ Dazu gehört auch der digitale Aufbruch in Gesellschaft, Wirtschaft und bei der Arbeit unseres Staates“.
Drittens bedeutet Fortschritt:
-„Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel mithilfe einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, die klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeitsplätze schafft.“
Letzteres ist die Allerweltsformel der neuen Fortschrittsregierung. Sie formuliert aber auch, dass der Klimawandel nicht die einzige Frage von existenzieller Bedeutung ist. Außerdem gibt es bei mindestens vier Definitionen noch erheblichen Präzisierungs- und Konkretisierungsbedarf (Mietpreise, Sozialpolitik, Rente, Digitalisierung). Für einen neuen Stil sorgte Scholz, als er zum ersten mal von den Grünen als „unseren Freunden“ sprach. Kann er als Kanzler auf Augenhöhe regieren?
Verständigung durch Gespräche
Die vertrauensvollen Gespräche vor den Sondierungen waren ebenfalls neu, und die Ergebnisse der ersten Sondierungen überraschten, insbesondere die Annäherung zwischen FDP und Grünen: ‚Neoliberale‘ und ‚Verbotspartei‘ konnten sich verständigen, was etwas anderes ist als sich wechselseitig lediglich zu etikettieren.
Am meisten strahlte und lobte Christian Lindner bei der Pressekonferenz am 15. Oktober. Bereits am anderen Tag schlug ihn sein Parteifreund Kubicki als Finanzminister vor, damit die FDP beweisen könne, dass es auch ohne Steuererhöhungen gehe. Im Wahlkampf polemisierte Lindner noch vor allem gegen Habeck als Finanzminister, um grün-rote Umverteilung, Bevormundung und Subventionspolitik zu verhindern. Es kommt einem vor, als ob die FDP die Wahl gewonnen hätte.
Die Akzentuierungen des Fortschritts sind unterschiedlich:
– neben der sozialdemokratischen Fortschrittserzählung, siehe oben,
– betont die FDP die Modernisierung als liberale Entfesselung von Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Chancengerechtigkeit sowie
– die Grünen die offene, inklusive und nachhaltige Gesellschaft.
Sozialdemokratische Fortschrittserzählung, historische Mission (‚Menschheitskrise‘) und liberale Modernisierung kommen zusammen. Die Fortschrittserwartung gehört unstrittig zur Philosophie der Moderne. Sie liegt auch dem kurzfristigeren Modernisierungsbegriff zugrunde, der verschiedene Dimensionen umfasst, wobei gegenwärtig geradezu enthusiastisch auf neue Technologien gesetzt wird. Wir sind also auch in der ‚Spätmoderne‘ genauso wie in der Postmoderne immer noch in der Moderne, was die Bedeutungsschwere des Wortes ‚Fortschritt‘ unterstreicht. Was aber kommt nach der Spätmoderne? Nach dem ‚Spätkapitalismus‘ in den Zeitdiagnosen der 70er Jahre kam auch ’nur‘ der Kapitalismus – und noch viel mehr.
Was ‚Politik machen‘ konkret heißt, müssen nun erstmal die Koalitionsverhandlungen präzise und faktensicher klären und nicht jüngere oder ältere ideengeschichtliche Narrative des Fortschritts. Das Sondierungspapier vom 15.Oktober lässt noch vieles offen, aber die Parteien können inzwischen die geweckten Hoffnungen nicht mehr enttäuschen. Sie müssen handeln durch Verhandeln.
Die konstruktiven Politiker sind somit äzum Erfolg verdammt, obwohl es komplizierter wird. Ein grosses Investitionsprogramm für Klimaschutz, Digitalisierung und Modernisierung von ca. 50 Milliarden Euro pro Jahr ist vorgesehen und soll mit Schuldenbremse und ohne Steuererhöhungen zustande kommen. Daran haben nicht nur Ökonomen, die allerdings unterschiedliche Lehrmeinungen und Schulen kennen, Zweifel.
Ungewöhnlich und symptomatisch war, dass sich sogar zwei renommierte amerikanische Wirtschaftswissenschaftler bei der Besetzung des mächtigen Postens des Finanzministers zu Wort meldeten (Stiglitz/Tooze, in: Die Zeit, 28.10). Sie halten Lindner für ungeeignet und empfehlen Habeck, einschliesslich des grünen Europapolitikers Sven Giegold als Staatssekretär. Das geht weit, aber auch in einer schwachen Regierung, so ihre Prämisse, können starke Minister(ien) viel bewegen. Das ist richtig.
Der gute Finanzminister Scholz „unter Merkel“ in der Corona-Krise 2020 mit seiner ‚Bazooka‘ ist das beste Beispiel dafür. Lindners Vorstellungen hingegen seien eine „Anhäufung konservativer Klischees“ aus den 90er Jahren, die sich negativ auf eine ernsthafte Klima- und Europapolitik, die jetzt gefordert sei, auswirken würden, so die These. Neu ist auch, dass Umfragen (Forsa) und Trendbarometer (RTL/ntv) bei solchen Personal-Fragen ‚mitbestimmen‘ (2.11.). Hier liegt Lindner vorne.
Gibt es gute und schlechte Schulden? Und welche Rolle spielen dabei die Rechte künftiger Generationen? Selbst die „Wirtschaftsweisen“, die einzigen Weisen, die in der Wirtschaftsmacht Deutschland (nicht zufällig geschaffen von Ludwig Erhard 1963) noch überleben konnten, sind sich uneins. Wer kann dann noch weiterhelfen, wenn selbst dieser Rat infrage steht? Nur der Handlungsmut der Politik, welcher sich wiederum vor den Wählern zu verantworten hat. Das unterscheidet Politik von Wissenschaft. Die Wissenschaft regiert nicht.
Die Koalitionsverhandlungen beginnen am 21. Oktober, 22 Arbeitsgruppen mit 288 Verhandlern aus allen drei Parteien sind vorgesehen. Man sieht daran, dass sich die Politik fachlich in verschiedene Politikfelder ausdifferenziert hat, womit sie dem Grundprinzip der Moderne folgt. Es ist eine relativ große Struktur, um effektiv zu sein; die Koordination und der Erhalt von Vertraulichkeit und Offenheit werden schwieriger. Vertrauliche Gespräche indessen sind möglich und wichtig, sie ermöglichen inhaltliche Fortschritte selbst zwischen verschiedenen Ideenwelten und Denkschulen, die sich meist gar nicht kennen, während Eklats und das Scheitern (nicht das Gelingen!) einen höheren Nachrichtenwert für die Medien haben und zudem strategisch inszeniert werden können.
Aus der unumgänglichen Medialisierung der Politik muss deshalb nicht zwangsläufig eine Kolonialisierung durch die Medien werden. Die Meinungsschlacht in den Talkshows, die in den neuen sozialen Medien allzuschnell multipliziert wird, ersetzt die Demokratie der Bürger und Bürgerinnen nicht, sondern zersetzt sie eher. Die Meinungsstarken und Lauten gehören von daher zu den neuen (Halb-)Starken.
Die SPD versucht derweil das Drehbuch in die Hand zu nehmen, zum Beispiel beim virulenten Thema ‚Bauen und Wohnen‘ mit dem Verhandlungsführer Kevin Kühnert. Und Ministerpräsident Woidke sowie Bundesumweltministerin Schulze sollen in der Arbeitsgruppe ‚Klima, Energie, Transformation‘ unter anderem den Kohleausstieg beraten, der vielen Menschen in der Lausitz Sorgen bereitet. In dieser Gruppe werden die Verhandlungen für die Grünen am schwierigsten.
Mit dem ehrgeizigen Zeitplan wird Handlungsfähigkeit demonstriert: bis 10. November sollen die Papiere der Arbeitsgruppen, maximal 5 Seiten, und bis Ende November der Koalitionsvertrag vorliegen, der von den 21 Verhandlungsführern zusammen mit der Ministeriumsverteilung finalisiert wird. In der Woche vom 6. Dezember will man dann den Bundeskanzler wählen. Die drei Generalsekretäre der Parteien erweisen sich als gute Strategen. Das Titelbild vom 16. November mit den drei verschmitzten Gesichtern vor der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz, wo schon eine Ampelkoalition regiert, in Berlin ist vielsagend.
Scholz möchte als Kanzler zum Europäischen Rat am 16. Dezember nach Brüssel reisen, was auch dringend nötig ist. Für die deutschen Sozialdemokraten wäre das die Krönung eines schweren, aber erfolgreichen politischen Jahres. Ob es auch der Beginn eines „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ (Klingbeil) wird, lassen wir dahingestellt.
Im Vordergrund stehen aktuell die Finanzierungsfragen für die gewaltigen Investitionsvorhaben. Dabei sollen die Spielräume der Schuldenbremse ausgeschöpft und klimaschädliche Subventionen gekürzt sowie eventuell neue Kredite für die Zukunft aufgenommen werden. Wo gibt es noch Geldquellen für die nötigen Investitionen? lautet die Frage. „Ohne Geld wird alles nichts“ (Giegold). Habeck fordert mehr Mut zur Verschuldung (im Interview FAZ, 24.10.).
Nach den schmerzhaften Kompromissen in der Steuerpolitik mit der FDP ist allenthalben ein Murren zu hören. Eine Belastung der Topverdiener ist ebensowenig zu sehen wie eine Entlastung der kleineren und mittleren Einkommen, stattdessen wird darauf gesetzt, Steuerhinterziehung und Geldwäsche einen Riegel vorschieben zu können. Eine globale Mindeststeuer für Unternehmen wird am 30.Oktober beim G20-Gipfel in Rom beschlossen.
Trotz des großen organisatorischen und personellen Aufwands verliefen die Koalitionsgespräche erstaunlich geräuschlos – bis zum 5. November, als die Grünen sich unzufrieden zeigten mit den Fortschritten bei ihrem zentralen Thema Klima. Sie suchten deshalb Unterstützung bei Greenpeace, Naturschutzbund und WWF.
Es ist ein Querschnittsthema, das auch in anderen Ressorts, beim Verkehr, in der Landwirtschaft und beim Bauen, stärker Berücksichtigung finden muss und zeitlich über eine Legislaturperiode hinausgeht. Baerbock kündigt an, dass deshalb die Verhandlungen länger dauern könnten. Die Klimaregierung muss ebenso sichtbar werden wie die verhinderten Steuererhöhungen der FDP und der sozialdemokratische Fortschritt.
Gute und bessere Regierung
Bei einer sozialdemokratischen Regierung sollte jedenfalls der soziale Ausgleich nicht augenscheinlich zu kurz kommen. Die gerechtere Beteiligung aller Einkommen an der Finanzierung des Staates muss Ziel dieser Politik sein, so der scheidende SPD-Vorsitzende Walter-Borjans am 29.10., der nie Verfechter einer Ampel war.
Für die Grüne Jugend und die Jusos ist die Ampel ebenfalls kein Automatismus, sie werden über den Koalitionsvertrag noch abstimmen. Am 3. November melden sich die linken Jugendverbände zu Wort: sie fordern ein sanktionsfreies Bürgergeld, ein Mietenmoratorium, kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, Ausbildungsplatzgarantie und einen Transformationsfonds.
Eine neue Regierungsorganisation gehört zum Versprechen der besseren Regierung. Die Grünen haben im Wahlkampf eigens ein neues Klimaschutzministerium als Querschnittsministerium mit Interventionsrechten gefordert. Dasselbe gilt bereits von der Verfassung her für das weichenstellende Finanzministerium, das Liberale und Grüne gerne hätten, um ihre Politikvorstellungen durchsetzen zu können. Lindner oder Habeck, das sei eine echte Weichenstellung, so wurde explizit und für alle hörbar Wahlkampf geführt.
Der Zuschnitt und die Besetzung von Ministerien (soll es auch ein eigenes Bauministerium geben?) drängt sich in den Koalitionsrunden in den Vordergrund, denn nicht alle Inhalte, die von kontingenten Entwicklungen abhängen, können zuvor schon im Koalitionspapier geklärt werden. Die Minister/innen spielen bei der konkreten Regierungspolitik eine ausschlagebende Rolle.
Wieviel aber soll beispielsweise die Bundeswehr, der „Staatsbürger in Uniform“ kosten, und wie soll zusammen mit Frankreich die europäische Verteidigung ausgebaut werden, müsste man jetzt schon wissen; auch was Macron unter ‚europäischer Souveränität‘ versteht. Für den Aufbruch in die Welt finden sich bisher nur Floskeln und Bekenntnisse. Was also kann und muss im Ungefähren bleiben, und was nicht?
Es ist nicht lange her, da lag ein Koalitionsvertrag der Grossen Koalition mit dem grossartigen Titel „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“ (2018) auf dem Tisch. Wer hat die 175 Seiten gelesen? Wer kennt ihn noch? Zumindest an das anspruchsvolle Europa-Kapitel, das im Wesentlichen einer schrieb, der sich nur durch einen Buchstaben von Scholz unterschied, hätte die öffentliche Diskussion öfter anknüpfen können. Dann hätte man heute nicht so viel nachzuholen. Über die Europapolitik wissen die Bürger/innen zu wenig.
Ein Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre sollte Klartext sprechen und nicht zuviel versprechen. Er kann und muss nicht alle Details ausführlich behandeln. Die parlamentarische Demokratie ist keine „notarielle Veranstaltung“, die den Koalitionsvertrag lediglich abarbeitet, so der Alterspräsident Wolfgang Schäuble am 26.Oktober bei der Eröffnung des neuen Bundestages, in dem spannende Debatten zu erwarten sind.
Die Dissonanzen werden anfangs November erwartungsgemäss wieder grösser, wenn es um die Koalitionsdetails geht, und die Medien wieder mehr erfahren und mitdiskutieren können. Wie zum Beispiel soll die Freigabe von Cannabis eingeführt werden? Durch kontrollierte Abgabe in Geschäften, bei denen der Staat noch etwas dazu verdienen kann.
Oder weit gewichtiger und heikler: die Frage nach der sogenannten nuklearen Teilhabe, das heisst des Abzugs amerikanischer Atomwaffen von deutschem Boden; bisher war die Union strikt dagegen, SPD und Grüne dafür. Der Kontext spricht mit: Anfangs November bricht Russland die diplomatischen Beziehungen mit der Nato ab; es gibt den Bündnisfall wegen Belarus, und der Konflikt Russlands mit der Ukraine spitzt sich zu. Der Bundeswehreinsatz in Mali steht ausserdem in Frage, und das Afghanistan-Debakel harrt der Aufarbeitung.
Seit dem Nato-Gipfel in Prag 2002 fordert diese das 2%-Ziel am BIP von den Bündnisstaaten ein; nach der Annexion der Krim wurde es 2014 noch einmal bekräftigt. Elf Staaten, darunter die drei baltischen Staaten und Polen, erreichen es, das reiche und starke Deutschland nicht, was schon Obama und nicht erst Trump störte.
Für die zahlreichen schwierigen sicherheits- und weltpolitischen Fragen, die hier nicht einmal angedeutet werden können, ist nur eine von 22 Arbeitsgruppen bis zum 10. November an der Arbeit, was bezeichnend ist für den Substanzverlust der Aussenpolitik – theoretisch wie praktisch.
Liberale Gesellschaftspolitik
Zum Fortschritt gehört bei vollends säkularisierten Parteien eine liberale Gesellschaftspolitik vor allem hinsichtlich Minderheiten, Einwanderung und Kirchenarbeitsrecht. Überfällig ist die Streichung der Paragraphen 218 und 219a sowie endlich die Einführung eines praktikablen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, das seit den 90er Jahren hin und her diskutiert wird (Vorbild Kanada) und dringend gebraucht wird.
Der Aufenthaltsstatus bereits gut Integrierter soll zudem erleichtert werden. Die Diskriminierung wegen sexueller Identität wird verboten, wie es schon längst etwa in der Brandenburger Verfassung steht (Art.12 Abs.2). Die Entkriminalisierung und Legalisierung von Cannabis wird eingeführt. Die öffentlichen Verrenkungen eines Bill Clinton werden künftig nicht mehr nötig sein, und die überlastete Polizei hat etwas weniger zu tun und kann sich wichtigeren Dingen zuwenden.
Für die gewünschte Herabsetzung des Wahlrechtsalters auf 16 Jahre braucht es hingegen eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, die nicht zu erwarten ist. Andererseits ist das Tempolimit zu leicht am Widerstand der Liberalen gescheitert, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung sich inzwischen dafür ausspricht, was als Verhandlungsergebnis kein vernünftiges Resultat ist. Andere Kompromisse sind nicht nur offensichtlich vernünftiger, sondern auch von größerem symbolischen Wert. Das zeigt sich im historischen Rückblick auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet, aktuell muss es sich umwelt- und klimapolitisch erweisen.
Die Koalitionäre der Fortschrittsregierung wollen ausdrücklich nicht von Gewinnern und Verlierern sprechen, was eine wichtige Teilwahrheit ist. Diese Schwäche ist tatsächlich ihre neue Stärke. Sie verhandeln in einem Vertrauensraum der Toleranz, Offenheit und des Entgegenkommens. Ohne Medienöffentlichkeit kann man hier auch einmal „ins Unreine sprechen“ (Buschmann, FDP) und lernt dabei etwas. Man muss nicht ständig Theater spielen – „wir alle spielen Theater“ im öffentlichen Raum, so die Beobachtung des Soziologen Erving Goffman. Identität und Politik gehen darin jedoch nicht auf, höchstens für Selbstdarsteller.
Die beschränkte Macht der Parteien
Von aussen gesehen hat die FDP mit der neuen Regierung am meisten gewonnen, gemessen an den inhaltlichen Aussagen und im Verhältnis zum tatsächlichen Wahlresultat von lediglich 11%. Gewonnen haben aber auch die Grünen, die ihr Resultat gegenüber 2017 auf fast 15% verbessern konnten und nun zusammen mit ihrer Anhängerschaft einen „Riesenaufbruch“ (Hofreiter) erwarten, obwohl sie weit unter ihren eigenen Erwartungen geblieben sind.
Die Grünen sind unter Druck, auch und vor allem von seiten ihrer eigenen jungen aktiven Anhängerschaft, die den Klimaprotest auf die Strasse und vor die Parteizentralen bringt. Das 1,5 Grad -Ziel, dem im Moment keine Nation genügt, ist für sie nicht mehr verhandelbar, sie sind ungeduldig und wollen nicht warten, während die Klimaberichte immer dramatischer werden. Im Moment steuert die globale Erderwärmung auf 2,7 Grad zu. Werden alle Versprechungen von Glasgow eingehalten, werden es 2,4 Grad laut der Analyse von Climate Action Tracker (CAT).
Was soll der Fortschritt, wenn „die Welt schon verloren ist?“ (Die Zeit, 28.10., Hasselmann/Neubauer). Techniken und Ziele sind vorhanden, Zeit und Handeln fehlen. G20 in Rom ohne Russland und China und die UN-Klimakonferenz in Glasgow (31.10. bis 12.11.) sagen im Ergebnis wenig über unmittelbare konkrete Massnahmen. Die ehemalige ‚Klimakanzlerin‘ Merkel (2007) fordert einen weltweiten CO2-Preis (am 1.11.). „Schnelles Handeln sei eine existentielle Frage“, so Kerry am 12. November zum Abschluss der Konferenz. Dafür wird eine neue Klimaaussenpolitik mit neuen Allianzen und Kooperationen entscheidend sein.
Als allein konsensfähiger Fortschrittsbegriff bleibt der unaufhaltsame wissenschaftlich-technische Fortschritt, während die sozialdemokratische Fortschrittserzählung eines „fairen Strukturwandels“ dafür kämpft, dass technischer Fortschritt und Klimaschutz nicht zulasten der Arbeitsplätze gehen, wofür wiederum grosse Investitionen des Staates erforderlich sind. Gewerkschaftsbewegung und Regierung spannen zusammen. Das neue Zauberwort heisst ’sozialökologisch‘, für die FDP kommt die Betonung der Marktwirtschaft hinzu. Allgegenwärtig ist die Innovationssemantik, die an die Stelle der alten geschichtsphilosophischen Fortschrittsproblematik getreten ist.
Die Grünen schickten 2021 mit Annalena Baerbock zum ersten Mal eine Kanzlerkandidatin ins Rennen um das wichtigste politische Amt. Das war historisch. Ob das Resultat ebenso historisch geworden ist, bleibt eine andere Frage. Nach dem Spurwechsel durch den ‚Realo‘ Joschka Fischer erreicht damit die ehemalige Anti-Parteien-Partei, die erst 1991 das Rotationsprinzip im Bundestag aufgegeben hat, ihre Klimax, wenngleich nicht mit einem überragenden Resultat, aber mit umso grösseren Ambitionen. Der Realist Fischer, der seine praktischen und theoretischen Studien hinter sich hat, kann leider nicht mehr Aussenminister werden.
Für die neuen Grünen ist die Regierung eine historische Mission (‚Jetzt‘!), sie sehen Deutschland in einer Vorbildrolle. Ihre beiden Vorsitzenden, das ‚DreamTeam‘ Baerbock und Habeck werden wichtige Ämter in der neuen (Klima-)Regierung übernehmen und ihre Parteiämter aufgeben, wie es der Tradition dieser Partei – im Unterschied zur CDU und FDP – entspricht.
Die SPD ist unter Druck wegen des frühzeitigen Ausstiegs aus der Kohle, wovor Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt warnen. Scholz konnte dort die Probleme studieren und hat den Arbeitnehmern Zusagen gegeben (im Koalitionsvertrag steht 2030). Und sie ist unter Druck wegen der drängendsten sozialen Frage: den hohen Mieten und fehlenden (Sozial-)Wohnungen, darunter fehlende Studentenwohnheime. Der soziale und der Umweltprotest könnten sich vereinigen und womöglich eine neue Ära von Aufständen begründen.
Scholz will sich jedenfalls auf die Kanzlerschaft konzentrieren, wofür er noch zulegen muss. Den Kampf um den Parteivorsitz hatte er 2019 nach einer aufwendigen Mitgliederbefragung verloren. Er will kollegial und gemeinsam regieren, etwa im europa- und außenpolitischen Bereich (24.11.). In allen Parteien wird sich in den nächsten Jahren wieder viel bewegen, da sie allesamt vor einem Neustart stehen.
Die drei Parteien, die jetzt die Regierung bilden, müssen zudem aufpassen, dass sie angesichts der bescheidenen Wahlresultate nicht überziehen: 15% sind nicht 50%! Die Parteien sind Scheinriesen, obwohl oder gerade weil sie regieren. Sie müssen deshalb tunlichst den Dialog mit den Bürgern suchen und die Demokratie der Basis ausbauen und stärken. Ein Abheben wie bei der machtverwöhnten Christdemokratie darf es nicht geben, ansonsten wird von der Parteiendemokratie nicht viel übrigbleiben. Die ergänzenden Verfahren zur repräsentativen Demokratie sind bisher eher von oben initiierte und gesteuerte Prozesse, einschließlich der Bürgerräte (S.10 im Koalitionsvertrag).
Scholz weiß als langjähriger Finanzminister, was auf ihn zukommt. Er kennt die Zahlen des Haushalts, die sich mit der neuen Steuerschätzung noch einmal verbessert haben. Das hätte auch Laschet gewusst, der jetzt eigentlich die Rolle des Oppositionsführers gegen (und mit) der neuen Regierung übernehmen müsste (und nicht Brinkhaus!). Aber selbst das, was zur Minimaldefinition der Demokratie gehört, hat die Union durch eine zu lange Regierungszeit verlernt. „Opposition ist nicht Mist“ (Müntefering, Söder), und Scheinriesen kann und muss man kritisieren. Jetzt würde das Duell zwischen Scholz und Laschet auf parlamentarischer Bühne erst recht interessant. Die Union wird genügend Angriffspunkte finden, denn es wird Probleme geben, bei denen man mit plausiblen Gründen verschiedener Meinung sein kann.
Der neue Koalitionsvertrag
Der neue Koalitionsvertrag unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“, mit dem Untertitel: „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ (177 Seiten) wird am 24. November vorgestellt: „Uns eint der Glaube an den Fortschritt und dass Politik etwas Gutes bewirken kann“ (Scholz). Die drei Parteien konnten ihre Grundpositionen (sozial, grün, liberal) nach zügigen, vertrauensvollen und kontroversen Verhandlungen mit guter Gesprächskultur und ohne gezielte Indiskretionen sichtbar machen und die Ressorts verteilen. Eine neue kollegiale Regierungsweise, die noch viele Härtetests bestehen muss, wird damit vorweggenommen. Nicht alles lässt sich durch bessere Organisation und Digitalisierung erledigen, die wichtigsten lernfähigen Einheiten sind noch immer Personen, die interagieren.
Der Klimaschutz zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche, er soll sozial abgefedert und bezahlbar sein auch für einkommensschwache Familien, dafür steht zum Beispiel der Heizkostenzuschuss im neuen Koalitionsvertrag. Lindner bezeichnet ihn als „das ambitionierteste Klimaschutzprogramm einer Industrienation“, die nun auch Technologieweltmeister werden soll. Die bezeichnenden Worte ‚Technologieoffenheit‘ und ’neue Zukunftsmärkte‘ stammen von der FDP. ‚Digital‘ ist eines der häufigsten Worte im neuen Koalitionsvertrag.
Scholz muss jedoch gleich zu Anfang über die Corona-Krise, die sich mit der 4. Welle noch einmal dramatisiert hat, sprechen. Jede akute Krise ist ab sofort auch die Krise der neuen Regierung, die sogleich einen Corona-Krisenstab mit wissenschaftlicher Begleitung im Kanzleramt einrichten will (muss!). Die Mammutaufgabe des Gesundheitsministeriums wird die SPD mit klarer Linie ebenfalls übernehmen (müssen!). Das Pandemiemanagement ist jetzt die vordringlichste Pflichtaufgabe der Regierung. Die angekündigten Gelder als Bonus für die Pflegekräfte sind mehr als nötig.
Klug an der neuen Regierungsorganisation der Ampel ist die Verbindung von Wirtschaft und Klima im Superministerium, das von den Grünen gefordert worden ist. Habeck wird es übernehmen und zugleich Vizekanzler werden, während Baerbock das anspruchsvolle Außenministerium bekommt. Das mächtige Finanzministerium hingegen übernimmt Lindner, was de facto eine Vorbedingung für die neue Koalition war. Wie aber sollen die nötigen Investitionen gestemmt werden, wenn die Schuldenbremse ab 2023 verpflichtend eingehalten wird? In der Wirtschaftspolitik bleibt noch vieles offen.
Der altneue Arbeitsminister Hubertus Heil wird für die Realisierung der sozialdemokratischen Herzensprojekte wie Mindestlohn zuständig sein. Im Koalitionsvertrag findet sich zudem erstmals ein eigenes Kapitel über die Kindergrundsicherung und Kinderrechte (S.93ff). Die Tradition des im internationalen Vergleich starken deutschen Sozialstaats (mit Kurzarbeitergeld, Grundrente, Überbrückungshilfen usw.) ist hier ungebrochen. Sicher wird die Rente mit dem Einstieg in die Aktienrente wieder für viel Diskussionsstoff sorgen. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann bewertet diese Entwicklung positiv: „Sozialer Zusammenhalt, Stärkung der Tarifbindung und Weiterentwicklung der Mitbestimmung werden als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation benannt“ (Tagesspiegel, 22.11.).
Das finden die Gewerkschaften „fortschrittlich“ zusammen mit der „Gestaltungsrolle der Sozialpartner“ (a.a.O.). In dieser Hinsicht haben sich die Liberalen zum Sozialliberalismus hin bewegt seit den Tagen von Westerwelle und Rösler. Das ist gut so. Lindner rechnet sogar mit mehr als einer Wahlperiode für die Ampelkoalition. Im günstigsten Fall kristallisiert sich dabei ein gefestigter neuer grüner Sozialliberalismus heraus, der zunächst lediglich spekulativ-theoretisch gemeint war.
Die Mietpreisbremse, die sich bislang als wenig wirksam erwiesen hat, wird zudem nicht nur verlängert, sondern auch verschärft. Endlich sollen mehr Sozialwohnungen gebaut werden, was eine alte Forderung linker Sozialdemokraten ist. Ein eigenes Bauministerium, das es schon einmal gab, wird es wieder geben, da in Zukunft nicht nur viel, sondern auch anders gebaut werden muss, nämlich nachhaltig (mit CO2- neutralem Beton), sozial und nicht räumlich verschwenderisch, womit auch Verkehrsfragen ins Spiel kommen.
Das ist weltweit – unterwegs zu Utopia mit neuen Sozialformen, die erhebliche ökologische Auswirkungen haben – eine große Zukunftsaufgabe ist. Eine neue Bauhausbewegung könnte von Deutschland ausgehen. Ein eigenständiges Digitalisierungsministerium, wofür die Digitalpartei FDP im Wahlkampf geworben hat, wird es dagegen nicht geben. Die Verwaltungsbeschleunigung, die mehrere Ministerien und Bereiche betrifft, darf jedoch nicht wieder ein rhetorisches Placebo bleiben.
Selbstverständlich gibt es in den Bereichen Inneres und Justiz bei allen Handlungsbedarfen mehr Kontinuität als Bruch. Die ehemalige Justizministerin Lambrecht übernimmt das politisch brisante Innenministerium, bei dem es um einen starken und durchsetzungsfähigen demokratischen Rechtsstaat geht. Auch das ist folgerichtig. Das traditionell schwierige Verteidigungsministerium, das einst Helmut Schmidt innehatte, übernimmt ebenfalls die SPD, die inzwischen für militärische Drohnen zur Selbstverteidigung eintritt (S.150 im Koalitionsvertrag).
Scholz macht ernst mit Parität und Ausgewogenheit. Die kleinen Parteien sind mit 5 und 4 Ministerien gut bedient und konnten ihre inhaltlichen Hauptpunkte durchsetzen. Die 4 Ministerien der FDP passen bestens zu ihrem Programm (solide Finanzen, Rechtsstaats-, Bildungs- und Digitalpartei). Auf der Ministerliste der Grünen vermisst man dagegen Cem Özdemir und Anton Hofreiter als kompetenten und robusten Verkehrsminister, zumal die Verkehrswende (Schiene first, öffentlicher Nahverkehr, autofreie Innenstädte u.a.) zentral für die grüne Politik ist. Gerade in diesem Bereich sind schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren vonnöten.
Die sozialdemokratische Prägung der Regierung, die in die gesellschaftliche Breite geht und Sicherheit im Wandel verleiht, wird deutlich. Die Autorität von Scholz, der künftig auch europa- und außenpolitisch Führungsstärke zeigen muss, wirkt. Er muss nun aus dem Schatten von Merkel heraustreten und versuchen, durch Zusammenführen zu führen, das heißt: kollegiales Regieren mit Gesamtsteuerung und fortschrittliches Integrieren.
Die Wirklichkeiten von Migration und Asyl in Europa sind ebenso schwierig und komplex wie die finanzpolitischen Fragen, denen nicht länger durch Verdrängung und Hilflosigkeit ausgewichen werden kann. Gibt es 2021 noch ein Asylrecht in Europa? Und wie bringt man Humanität und Ordnung bei der Migration zusammen? Das sind Fragen, die viele Menschen bewegen, auf welche die Regierung eine mehrheitsfähige Antwort geben muss.
Fortschrittskoalition als fragile Konstruktion
Das Versprechen des sozialdemokratischen Fortschritts, die Folgen des großen ökologischen Umbaus der Industrie sozial abfedern zu können, ist das eine: Idealerweise durch die Kooperation zwischen Staat, sozialdemokratischer Regierung und den Gewerkschaften. Gegenüber dem Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Modernisierung wird man allerdings aus Erfahrung skeptisch sein, ob es durchschlagskräftig genug ist.
In der Autoindustrie etwa zwingt die Elektromobilität dazu, in der Aufholjagd auf Tesla in Grünheide die Strukturen technisch und betriebswirtschaftlich effizienter zu gestalten. Durch einen Kahlschlag bei der Belegschaft, wie bei VW jüngst diskutiert? Durch ein neues Werk in Wolfsburg, das Tesla Paroli bietet? Der Wettbewerbsdruck steigt jedenfalls und Tariflöhne und Mitbestimmung stehen in Frage.
Um etwas anderes ging es bei der erfolgreichen Wahlkampagne „Soziale Politik für Dich“. Hierbei wurden ganz verschiedene Themen für unterschiedliche Gruppen und Individuen angesprochen: Mieten, Bauen, Wohnungen, Bafög, Weiterqualifikation, Bildung, Bürgergeld, Kindergeld, Rentner in Ost und West u.a.. Das ist eine moderne Sozialdemokratie, die sich als Akademikerpartei schon lange an einer Gesellschaft bildungs- und aufstiegsorientierter Individuen orientiert.
Rot-Grün hieß in den 80er Jahren noch eine normative Fortschrittsperspektive mit dem ‚Prinzip Hoffnung‘ (Bloch). Eingeschrieben war ein ‚anderer Fortschritt‘ (Strasser/Traube, Die Zukunft des Fortschritts, 1981) mit einer „Linken nach dem Sozialismus “ (Fischer 1993). Die Zukunft war noch und vor allem ein Versprechen (Lafontaine, Die Gesellschaft der Zukunft, 1993) ebenso wie ein „neuer Gesellschaftsvertrag“ (Fischer 2000), der seitdem lediglich metaphorisch beschworen wird.
Das ‚Prinzip Verantwortung‘ (Jonas) bezog sich in dieser Zeit, nicht nur, aber vor allem auf die militärische und friedliche Nutzung der Atomkraft, deren Fortschrittsnebenfolgen künftige Generationen Millionen Jahre belasten würden. Diese buchstäblich übermenschlichen Dimensionen einer riskanten Technologie, die vor kurzem noch für zukunftsgläubige Modernität stand, erschreckten die Geschichts- und Fortschrittsphilosophen. Die realen Katastrophen und Unfälle kamen hinzu.
Wer konnte dafür noch die Verantwortung übernehmen? Die erweiterte Verantwortung, auch stellvertretend für Rechte der Natur, wurde fortan ein zentrales Element im kritischen politischen Diskurs, das heute sogar völkerrechtliche Konsequenzen (‚Ökozid‘) haben kann.
Die neue Fortschrittskoalition ist Rot-Grün plus FDP, plakativ gesagt: weniger links und weniger pazifistisch, mehr kapitalistisch und technikfreundlich, weniger direktdemokratisch und mehr deliberativ (Bürgerräte!). Sie agiert objektiv unter anderen Krisenbedingungen, mit zeitlichen, europäischen und internationalen Vorgaben, stark voluntaristisch und doch eingebunden durch Zeitfristen, Verträge und rechtliche Regulierungen. Zunehmend wird bei politischen Konflikten auf Gerichte gesetzt.
Die erste rot-grüne Regierung in Europa Schröder/Fischer 1998-2005 hatte, nach 16 Jahren Helmut Kohl mit historischen Weichenstellungen in Deutschland und Europa, eine lange Vorlaufzeit (Atomausstiegsgesetz 2002). Rot-Grün als Perspektive hatte sich derweil zum Beispiel durch die EU (Generation Kohl, Euro 1999) grundlegend verändert und veränderte sich aufgrund äußerer Ereignisse wie Kosovokrieg oder 9/11 noch einmal.
Bei dieser Pfadabhängigkeit setzt Deutschland, im Unterschied etwa zu Frankreich, wo Macron am 9.November den Bau neuer Atomkraftwerke ankündigte (56 Reaktoren sind bereits in Betrieb), ganz auf die erneuerbaren Energien (Sonne und Wind) und will dort führende Technologienation werden. Die Atomtechnologie ist in Deutschland demgegenüber, ehemals noch führend auf diesem Gebiet, heute von gestern und nicht mehr wettbewerbsfähig, obwohl es hier ebenfalls neue Entwicklungen (Minireaktoren) gibt, für die selbst in Glasgow bestimmte Gruppen demonstriert haben.
Auch in Sachen Atomkraft ist Europa gespalten, und die Geothermie beispielsweise wird noch ungenügend genutzt. Brandenburg seinerseits setzt auf grünen Wasserstoff, der allerdings in den nächsten Jahren noch schneller produziert werden muss als Solar- und Windenergie. Die moderne Zivilisation ist vor allem eine energiefressende Zivilisation.
Deutschlands politischer Weg, hinter dem ein über Jahrzehnte gewachsener gesellschaftlicher Konsens steht, der durch harte Konflikte hindurch ging (Gorleben 1980, Brokdorf 1981), verlangt zwingend den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen. Energiewirtschaftlich ist dies möglich, wenn gleichzeitig der Kohleausstieg und das Verbot des Verbrenners früher erfolgen.
Bei der neuen Fortschrittskoalition handelt es sich um eine fragile Konstruktion, in der – wohlwollend gesprochen – ‚Widersprüchliches im Sinne eines guten Mix‘ zusammenkommt – Komplementarität statt Antagonismus. Dass sie überhaupt zustande kam, ist schon eine politische Leistung, die Kohärenz und Handlungsfähigkeit stiftet. Sie kann einen Aufbruch schaffen, wenngleich der große lineare Fortschritt im Singular als einigendes Band nicht mehr das ist, was er in der organisierten-industriellen Moderne einmal war.
Dass historisch, gesellschaftlich und politisch dennoch ein Fortschrittsbogen als Klammer und Orientierung zu schlagen versucht und ins große Machtspiel eingebracht wird, ist jedoch buchstäblich ein Fortschritt gegenüber geistiger Trägheit, wenigstens auf der Ebene politischer Theorie, der gleichermaßen Sozialdemokratie, Ökologie und Liberalismus beflügeln könnte.
Die Zukunft ist ungewiss wie nie und der Bürgerglaube erschüttert; ‚zukunftsfest‘ ist ein Unwort in dieser Situation. Hatte früher (und hat! Das Atomarsenal wird aufgerüstet) der Atomkrieg das Exterminismus-Potential, so hat es heute der Klimawandel. Würde ein Krieg zwischen China und den USA wegen Taiwan ausbrechen, wäre Deutschland als Verbündeter involviert. Würde sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine weiter verschärfen, wäre Deutschland ebenso gefordert.
Aus dem inflationären, alles andere überwältigenden Krisenmodus, der durch die neuartige Pandemiekrise noch verstärkt wird, müssen wir gleichwohl trotz dieser und anderer (Hintergrund-) Szenarien, die real, aber nicht unvermeidlich sind, herauskommen. Er verdüstert und vergiftet das gesellschaftliche Klima und behindert den nötigen Handlungsoptimismus. Politik ist anspruchsvolles lösungsorientiertes Denken und Handeln und versagt doch ständig.
Trotzdem oder vielmehr: gerade deshalb gilt es, die Fähigkeit zur Politik zu erhalten und in einer lernenden Demokratie auszubauen. Diese Verantwortung drückt auf alle, nicht nur auf die Politiker und die sogenannte und vielgenannte Politik im Singular, die das Politische als Handlungsvermögen nicht abdeckt. Der Ausnahmezustand „wie im Kriegsfall“ kann kein mentaler und faktischer Dauerzustand sein, der zu immer mehr Überforderung, Spaltung und Hass unter den Menschen führt. Aus der objektiven Krisensteigerung (Mehrfach-Krise) darf keine Panik werden. Die Krisen kommen und gehen, sie richten sich nicht nach Parteipolitik. Nicht jedes Problem ist eine Krise und nicht jede Krise ist ein unlösbares Problem; vielmehr ist jede zu bewältigende Krise und jeder Konflikt anders.
Das erfordert eine genaue konkrete Wahrnehmung und reflektierte wahrhaftige Einschätzungen, aus denen auch mehr Theorie als Orientierung und Strategie resultieren können. Ein Totalpragmatismus lässt dagegen nichts mehr sehen, er funktioniert nur noch. Viele Probleme und Krisen der Welt, insbesondere langfristige wie die ökologische Krise, kann eine Regierung allein auch im Geiste höherer Missionserfüllung ohnehin nicht lösen.
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