Genauso wie in den letzten Jahren die Krisen überhandgenommen haben, startete Normalität seine Begriffskarriere. Oft wurde genauer nachgefragt: welche Krise? Sicherlich gab es mehrere Krisen, so dass schon bald von Mehrfachkrise oder multipler Krise die Rede war, ohne dass im Einzelnen sachlich mehr über die Krisen (Rezession, Corona, Klima, Krieg) gesagt werden konnte. Eine pfiffige Antwort auf die Frage, was denn ‚Normalität‘ sei, lautete deshalb: die Abwesenheit von Krise.
War damit aber schon die Frage beantwortet, was Normalität ist? Und noch unbequemer nachgefragt: War nicht auch die Normalität selber in der Krise bei einem geradezu inflationär überwältigenden (medialen und politischen) Krisendiskurs? Letzterer verstärkte sich wechselseitig., wodurch vielleicht die dünnen Schichten der Normalität, die gleichwohl tragend blieben, übersehen wurden.
Normalität ist zweifellos ein schwieriger Begriff, der als soziales Konstrukt in verschiedenen Kontexten Verschiedenes bedeutet. Allgemein ist er nur schwer zu fassen. Eine sprachkritische Analyse seiner Verwendung ist deshalb nötig und nie endgültig abschließbar. Aber auch die ‚ordinary language philosophy‘ argumentiert mit Normalität, mit der Normalität der Alltagssprache. Also muss uns nicht bange werden, wenn wir langsam oder eruptiv den Boden unter den Füssen zu verlieren drohen, solange wir uns noch verständigen können.
Allgemein und fast nichtssagend lässt sich lediglich feststellen, dass Normalität eine Doppelbedeutung hat: deskriptivund normativ. Normativ ist Normalität schwierig zu definieren, aber auch umstritten-unstrittig unentbehrlich. Warum? Das ist die eigentlich interessante Frage.
Deskriptiv kommt man ohne Normalität ebenso wenig aus, das steht fest, denn Messgrößen gibt es überall: in der Wissenschaft, der Technik und im Alltag. Das sind jeweils erwartbare durchschnittliche Werte: Normalwerte und ihre Abweichungen.
Wie aber sind Abweichungen von der Norm im Sinne von Normalwerten zu beurteilen -diagnostisch, ethisch, politisch? ‚Normalerweise‘ ist eine Erwartungshaltung und oft auch ein Argument, das schwer zu entkräften ist. Wann werden Erwartungen problematisch, und wieso? An dieser Stelle kommen ausschlaggebende Kriterien ins Spiel? Für die einzelnen Menschen sind das ihre Grundrechte, für die staatliche Politik die Schutzverpflichtung, für die Wissenschaft die empirisch-statistische Evidenz.
Es kann aber auch zu einer Kollision der Kriterien kommen, die alle Seiten beschädigt. Die Wissenschaft regiert nicht. Und die Menschen? Was richten sie aus? Politisch wird es bei solchen Karambolagen, die sich häufen, kontrovers bis zur erbitterten moralischen Entrüstung, wenn sich auch die Experten uneins sind. So lässt sich unter anderem die zunehmende Moralisierung der politischen Kommunikation erklären.
Normalität ist ex negativo in der Corona-Krise wieder zu einem Allerweltsbegriff geworden.
Zusammen mit Schritten in die Normalität, wird er seit drei Jahren alltäglich, wissenschaftlich und politisch permanent diskutiert. Dabei kommen unterschiedliche Kriterien ins Spiel. Zugleich wird die grundlegende normative Frage wieder aufgeworfen, was zu einem normalen Alltag gehört. Die politischen Streitthemen kreisen dann immer wieder um prinzipiell dieselbe Frage: individuelle Eigenverantwortung oder staatliche Verantwortung, etwa beim Tempolimit.
Daran schließt sich zuweilen die Frage nach einer neuen Normalität an, wobei man gewiss nicht die eine Normalität einfach durch eine andere ersetzen kann. Eher geht es um eine (heute ökologische) Kritik unseres raumgreifenden (Wegwerf)-Lebensstils, die zu einem veränderten Alltagsleben als neuer Normalität führt – Normalität als Lösung, was nur nahe an der gewöhnlichen Demokratie verlaufen kann.
Radikale Klimaschützer sprechen heute vom „Normalitätswahnsinn“, der immer schneller in die Katastrophe führe – das fossile Weiter-So, ein uferloser individualisierter Autoverkehr und ein nicht-nachhaltiges Bauen, das wir für alltäglich und normal halten. Solche Entwicklungen (des american way of life?) werden immer stärker grundsätzlich und heftiger infrage gestellt: Der Kampf mit der ‚Bestie Normalität ‚ wird aufgenommen.
Dabei steigt der Druck auf die sogenannte Normalität, und zwar in verschiedener Hinsicht: alltäglich, wissenschaftlich und politisch. Komfort selber wird neu definiert, was unmittelbar ins Alltagsleben eingreift. Komfortzonen zu verlassen, ist immer unbequem. Bislang gehörte zum neuzeitlichen Fortschritt wie selbstverständlich Wohlstand für alle durch Wachstum, wirtschaftlich und sozial. Geht es ohne? Wir gehen in eine Ära schrumpfenden Wohlstandes, neuer Verteilungskonflikte und weiterer Rentenreformen.
Der Veränderungsdruck, aber auch die Veränderungsgeschwindigkeit wie die Zumutungen der Disruption steigen. Strukturwandel ist ’schöpferische Zerstörung‘. Das gilt für die einzelnen Menschen wie Unternehmen, wogegen wieder Normalisierungsvorstellungen kultur- und klassenkämpferisch ins Feld geführt werden.
Eine breite leidenschaftliche Auseinandersetzung um die ‚Normalität der normalen Leute‘ bis in die Ernährung und Mobilität hinein kommt so in Gang: Was ist normal, was arrogant und wo beginnt der Respekt? Nicht nur die Ratgeber, auch die Belehrungen nehmen überhand, die sich oft an Kleinigkeiten entzünden und ärgerlich sind.
Pandemie, Klimakrise und staatlicher Notstand sind aktuell die drei hauptsächlichen Kontexte, in welchen die Bezugnahme auf die Normalität eine grundlegende normativ-politische Rolle spielt. Die Oppositionsbegriffe sind jeweils verschieden. Krise und Notstand sind das konträre Gegenteil von scheinbar normalen Zuständen. Eine Gefahr liegt im überzogenen Ausnahmezustands-Diskurs etwa nach dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der die Demokratie im Großen wie im Kleinen aufhebt. Davor ist zu warnen.
Wir scheinen zu wissen, was normal ist. Dabei definieren andere Autoritäten als wir selber, was als normal zu gelten hat: die Wissenschaft, die Medizin, Ärzte, das Recht, Gerichte oder der Zeitgeist, der Mainstream, die Öffentlichkeit oder die Mehrheit. Das zeigt die Grenzen der Selbstbestimmung, die mehr Theorie als Praxis ist. Insofern ist das so bestimmte Normative das Normale.
Zwischen Normalität und Normativität gibt es einen Zusammenhang, der zugleich problematisch ist, wenn er unreflektiert das Abweichende als pathologisch oder kriminell stigmatisiert. Lediglich das Verrückte ist normalerweise nicht normal. Die kritischen Antipsychiater der 60er Jahren sprachen jedoch davon, dass die Verrückten die Normalen sind und die Normalen die Verrückten, was heute übertrieben scheint.
Der vorauslaufende Gehorsam, der verbreiteter und wirksamer ist als ziviler Ungehorsam, normalisiert. Allerdings gibt es auch ernsthafte Voraussetzungen der Normalität, auf die zu achten sind: die Geltung des Rechts beispielsweise setzt voraus, dass es keinen Bürgerkrieg, ein funktionierendes Gewaltmonopol des Staates und Gewaltenteilung gibt, was keineswegs selbstverständlich ist.
Wir müssen also unterscheiden können zwischen plausiblen, aber möglicherweise problematischen Gründen der Normalität und ernsthaften Argumenten, die historisch bewährt sind. An letztere schließt die demokratische politische Theorie an.
Wissenschaft und Demokratie setzen bestimmte Verfahren voraus, die verbindlich sind. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, existieren auch keine Normalitätsbedingungen. Diese Normalität geht mithin von bestimmten Prämissen aus, die im weiteren Verlauf nicht mehr in Frage gestellt werden.
Die Verfahrenslegitimität ist prioritär. Die Demokratie in einer differenzierten, pluralistischen und individualistischen Gesellschaft ist, obwohl vielfältig, im Makro-Bereich primär verfahrensorientiert. Nur dann kann leidenschaftlich, politisch eben, auch um bessere Ergebnisse bis zur Grenze des Erträglichen gestritten werden, die dann zu akzeptieren sind. Demokratie ist mithin eine bürgerschaftliche Vereinbarung darüber, wie verbindliche Beschlüsse in der Zeit herbeizuführen sind.
Lebenswelten und Systeme
Inbegriff des Selbstverständlichen ist die Lebenswelt. Dieser Begriff ist in der phänomenologischen Philosophie, die eine Bewegung „zu den Sachen selbst“ einleitete, von Edmund Husserl in seiner berühmten ‚Krisis‘-Schrift in die Diskussion eingeführt worden (1934-37/1962, S. 45ff, 114ff,123ff, 126ff). Husserls letzte große Arbeit endet mit einem Schlusswort über die Philosophie als menschheitliche Selbstbesinnung (269ff), kurz vor der großen Katastrophe des 2. Weltkrieges.
Sein Schüler Alfred Schütz (1899-1959), der emigrieren musste, hat daraus eine Soziologie der Lebenswelt (1932/1974) als Einleitung in die ‚verstehende Soziologie‘ im Anschluss an Max Weber gemacht, die der Konstanzer Soziologe Thomas Luckmann fortführte (1979). Dabei geht es auch um unsere verschiedenen kleinen (gelebten und konstruierten) Lebenswelten in den Ehen, Familien, Vereinen, Nachbarschaften usw.
Man kann auch von ‚Alltag‘ (1979) im Unterschied zur großen ‚Welt‘, die immer komplexer wird, sprechen. Die Unterscheidung zwischen den Perspektiven der ‚Lebenszeit‘ und der ‚Weltzeit‘ ist grundlegend für die Menschen wie die Philosophie (Blumenberg 1986). Aus ersteren speisen sich die biographischen und familiären Zukunftserwartungen, die in demokratischen Auseinandersetzungen den Ausschlag geben, worauf wir am Schluss wieder zurückkommen.
Blumenberg begreift die Lebenswelt nicht als faktische Alltagswelt, sondern als „Welt, die sie wäre, wenn es in ihr keine unbeantworteten Fragen mehr gäbe“ (Theorie der Lebenswelt 2010). Der Phänomenologe Blumenberg knüpft dabei an den Gegensatz von „Technisierung“ und „Lebenswelt“ bei Husserl an (S.45ff) und thematisiert die Wirklichkeiten, in denen wir leben, im Plural (1981):
“ Von Kants ‚Ding an sich‘ über die Schwarzen Löcher der Astronomen bis hin zum Zustand wunschlosen Glücks reichen seine Vergleiche, um die Schwierigkeiten zu zeigen, die Lebenswelt zum Gegenstand von Erkenntnis zu machen“ (2010). Die theoretische Beziehung zur Lebenswelt findet er in spezifisch modernen Erfahrungsverlusten:
„Wissenschaft ist nichts anderes als der Versuch, mit den Folgen des Verschwindens von Selbstverständlichkeiten fertig zu werden“ (a.a.O.). Dass deshalb Heerscharen von sogenannten Experten im Zusammenspiel mit den Medien heute eine immer größere Rolle spielen, liegt auf der Hand. Umso wichtiger und schwieriger wird ein lernfähiger Common sense für die Demokratie. Woran können Menschen dabei anknüpfen, ohne ‚weltfremd‘ zu werden?
Werden die gewohnheitsmäßigen Routinen und Relevanzen der Lebenswelt durchbrochen, so spricht man heute bezeichnenderweise von Disruptionen. Vor diesem Hintergrund eines beschleunigten sozialen Wandels, der seit den 5oer Jahren des 20. Jahrhunderts durch die verschiedenen ‚Systeme‘ der modernen Gesellschaft – vor allem durch Geld (Kommerzialisierung) und Recht (Verrechtlichung) – in lebensweltliche Strukturen immer schneller und tiefer eingreift, ist das Selbstverständliche der Lebenswelt selber zu einem Wert geworden, der unterschiedlich ausgelegt wird. Die neue Kritische Theorie hat von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ gesprochen (Habermas 1981). Das Verhältnis von Lebenswelten und Systemen ist kompliziert.
Die Reaktionsbildungen der Lebenswelt müssen nicht reaktionär sein, Traditionsbildungen können auch innovativ sein. Der Gegensatz von Modernisierung und der Weitervermittlung von Traditionen muss sich nicht zwangsläufig ausschließen, obwohl es auch und gerade in der Moderne zahlreiche Traditionsabbrüche gibt. Dazu kommen weltweit mächtige fundamentalistische Reaktionen, die sich im Kontext der Religionen jeder Hermeneutik verweigern, und dem „dekadenten Westen“ den Krieg erklären. Terrorismus und neue hybride Krieg bis hin zu tieferliegenden Zivilisationskonflikten bedrohen die liberale Demokratie auch in Europa und den USA.
Was bezüglich des Tempos und der Art der Modernisierung noch normal und sinnvoll ist, und was nicht, wird in Demokratien selbst ein kontroverses Thema. Die Lebenswelt ist langsamer und konservativer im Horizont der weltzeitlichen Systeme. Ihr eignet ein gesunder Menschenverstand beziehungsweise eine Urteilskraft, die auf Anschauung und Erfahrung beruht. Das macht einen großen Schwarm von vielen und verschiedenartigen ’normalen Leuten‘ aus, die man nicht auf die homogene Masse auf der einen Seite und die herablassende Elite auf der anderen Seite dichotomisch aufteilen kann.
Populismus und Faschismus
Mit dieser falschen Unterscheidung kommt allerdings eine anmaßende Arroganz ins Spiel, die der Faschismus erfolgreich in die einfache Beziehung von Führer und Volk, das sich verteidigt, indem es andere Völker angreift und zerstört, umgemünzt hat. Mussolini, der Prototyp des Faschisten, hat als ‚Duce‘ die Arbeiterbewegung derart beerben, überbieten und vernichten wollen.
Hitler hat ihm zum Geburtstag die Gesamtausgabe von Nietzsche geschenkt, der die Kombination einer führenden Werteelite mit einer Massenbewegung vorgedacht hat. Seitdem hat der Elitebegriff diese Kontamination, weshalb er auch bei bürgerlich-liberalen Lehrern, obwohl selber elitär, zurecht verpönt war.
Heute wird in der politischen Auseinandersetzung oft vorschnell und gesinnungstüchtig der Populismus mit Faschismus, der die Gewalt als politisches Mittel verherrlicht, verwechselt und gleichgesetzt. Als in Italien Meloni neue Regierungschefin wurde, sprach man allenthalben in Westeuropa von Faschismus. Auch andere (rechts-) populistische Parteien werden schnell als rechtsextrem oder faschistisch eingeschätzt.
Die Bezeichnungen sind unterschiedlich, unsicher, schwankend und unzuverlässig. Es ist aber überlebenswichtig in Demokratien, dass man mit populistischen Kräften und ihren Wählern um Themen wie heute zum Beispiel die Migrationspolitik demokratische Auseinandersetzungen bestehen kann. Diese müssen verständlich, breit und überzeugend geführt werden. Da hilft die verdunkelnde Etikettierung ‚Faschismus‘ ebenso wenig wie der pauschale Verdacht des ’strukturellen Rassismus‘, im Gegenteil.
Literatur:
Blumenberg, Hans: Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010
Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Ffm. 1986
Blumenberg, Hans: Wirklichkeiten in denen wir leben, Reclam 1981
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1981, 2 Bde.
Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962
Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Ffm. 1974
Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Ffm. 1979, 2 Bde.
Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, hrsg. von W.M. Sprondel/R. Grathoff, Enke 1979
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