Altes und Neues über die Hugenotten

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Die Hugenottengeschichte, obwohl sie bis ins 16.Jahrhundert zurückreicht, ist noch immer präsent, und zwar sowohl in Frankreich wie in Deutschland und anderen Länder. Das Schlüsseljahr ist 1685. Seit diesem Wendejahr lässt sich eine inner- und außerfranzösische Hugenottengeschichte unterscheiden (François, Berlin 2021). Das Edikt von Potsdam spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Wir werden darauf zurückkommen.

Wir werden im Folgenden auf die gewalttätigen, ja besonders grausamen konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit, die Flucht der Hugenotten, ihre Aufnahme und Integration eingehen. Die Verarbeitung dieser Erfahrungen hat grundlegende Konzepte der neuzeitlichen politischen Theorie und Ideengeschichte geprägt, ohne die wir heute nicht weiterkommen. 

Die Gegenwart einer begriffenen Vergangenheit kann dabei helfen, denn wir reden heute allzu schnell und oberflächlich von Spaltungen. Wir neigen zur Hysterie und das Wichtigste verlieren wir darüber oft aus dem Blick. Wir sollten uns aber deutlicher und präziser daran erinnern, was die Spaltung von kalten und heißen Bürgerkriegen bedeutet und wie es dazu kommen kann. Dies lässt uns bewusster werden, was elementare Bedingungen von Ordnung, Normalität und Zivilisation sind: bewusstes, nicht perfektes Leben ist möglich.

Das staatliche Gewaltmonopol, rechtsstaatlich durchgesetzt, gehört zentral dazu. Es ist eine grundlegende Bedingung auch und gerade der konfliktreichen modernen Demokratie. Gewalt aus Hass und Fanatismus sind keine legitime Mittel in der rechtsstaatlichen Demokratie, die versucht, das ursprüngliche Widerstandsrecht überflüssig zu machen. Dies alles ist nicht selbstverständlich und voraussetzungsreich, obwohl es erkenntnistheoretisch einfach ist. Einfach, aber schwer zu praktizieren; fragil und gefährdet, wenn man es nicht pflegt und offensiv verteidigt. Dazu gehört der staatliche Schutz der Menschen vor Gewalt, und die Verhinderung der Hölle jeder Selbstjustiz.

Die Erkenntnisse der frühen politischen Aufklärung des 16. und 17. Jahrhunderts aus leidvoller historischer Erfahrung sind nicht überholt oder aufgehoben durch die spätere Aufklärung. Sie sind eher vergessen und unterschätzt – unterschätzt auch durch unsere Selbstüberschätzung. Diese hat mit der modernen Attitüde einer allzu selbstgewissen Aufklärung zu tun, welche die technologische und politische Selbstüberschätzung auf eine Spitze treibt, welche die Menschheit, wie wir sie bisher kennen, bedroht. Deshalb haben wir tiefgreifende Krisen und keine Lösungen.

Konfessionelle Bürgerkriege

In Frankreich im 16. Jahrhundert wurde versucht, die von Calvin geprägte protestantische Bewegung kleinzuhalten und zu unterdrücken. Zwischen 1562 und 1580 kommt es zu sieben, „oft brutal extrem geführten Religionskriegen“, die man die Hugenottenkriege nennt (François: 17). Katholische und hugenottische Partei führten den Kampf derart militant und unversöhnlich, dass keine Variante von oben, Frieden zu stiften, Erfolg hatte. 

In diesem Umfeld entwickelte der Jurist Jean Bodin (1576) seinen Begriff der Souveränität bzw. der ’souveränen Gewalt‘, den die antike und mittelalterliche politische Theorie nicht kannte. Er wird zu einem Kernelement des neuzeitlichen Staates, der wiederum strukturell bei allen Transformationen (durch Verfassung, Wohlfahrt und Leistung) zu einem tragenden Grundkonzept der modernen Politik geworden ist.

Die Gruppe der bezeichnenderweise sogenannten ‚politiques‘, denen Bodin angehörte, wurde mithin zum Erfinder eines bestimmten Verständnisses von Politik (souveräne Staats- und Sicherheitspolitik!) zur Lösung grundlegender Konflikte, die verbindlich zu entscheiden sind, was wir nicht missen können.

Die Bürgerkriegsparteien waren sich nur darin einig, aus dem französischen Königreich ein konfessionell einheitliches Land zu machen. Die Spaltung war nicht eine unter anderen, sondern ging bis zum Äußersten, was die blutige Bartholomäusnacht 1572 – dem ersten Pogrom der Neuzeit – und die fanatischen Bilderstürme erklärt, was wir heute vielleicht Kulturkämpfe nennen würden.

Erst in der Folge des achten, Krieges kam es 1598 zum historischen Edikt von Nantes, welches den Calvinisten Toleranz im katholischen Königreich gewähren sollte. Staatsreligion blieb indes der Katholizismus, was die Abhängigkeit dieser Toleranz vom Monarchen demonstrierte. Es war eine typisch beschränkte Erlaubnis-Toleranz von oben, die bei Machtkämpfen in der Folge jederzeit wieder willkürlich werden konnte. 

Die Toleranz im Konflikt blieb von der absolutistischen Herrschaft der Monarchie und ihrer katholischen Auslegung abhängig, und der Widerstand dagegen war von der jeweiligen Lehre vom Widerstandsrecht, welches Luther, Calvin und Zwingli theologisch unterschiedlich interpretierten, abhängig.

Ab 1681 wurden die verbliebenen Protestanten immer mehr zur Konversion gezwungen. Ein probates Mittel dafür waren die berüchtigten „Dragonnades“, die in der bis zur Konversion erzwungenen Beherbergung von königlichen Soldaten bestanden. Mit dem Edikt von Fontainebleau, das Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 erließ, wurde schließlich die reformierte Häresie in Frankreich ausgelöscht. Der Sonnenkönig war mit seinem Versailles auf dem Höhepunkt königlicher Macht und beanspruchte die Hegemonie in Europa.

1685

Ca. 200 000 Hugenotten suchten daraufhin Zuflucht in calvinistischen Ländern und Regionen, obwohl das Edikt von Fontainebleau diese Ausreise hart bestrafte. So begann eine gefährliche Fluchtbewegung auch mit Schleppern. In Ländern wie England, den Vereinigten Niederlanden oder der freien Stadt Genf wurden die Glaubensflüchtlinge großzügig aufgenommen. 

In kurzer Zeit wurden sie selbst zu Engländern, Niederländern oder Schweizern, die sich dem Kampf gegen die Intoleranz der französischen Monarchie und der katholischen Kirche verschrieben, was auf ganz Europa ausstrahlte. Sie veränderten die Diskurse, denn das Französische war die Lingua franca der damaligen Zeit – in Wissenschaft und Politik.

Die „antiklerikale, religionskritische und Toleranz einfordernde Orientierung“(François) prägte die französische Form der Aufklärung (Bayle, Voltaire) bis zur Revolution 1798, die im Unterschied zur amerikanischen Revolution auch eine gegen die Religion war.

Das Edikt von Potsdam, das unmittelbar (22 Tage nur!) nach dem Edikt von Fontainebleau erschien, war zweisprachig: deutsch und französisch. Es gehört zu einer Reihe von Ansiedlungspatenten, die sich auch anderswo finden. „Gleichzeitig diente es wiederum als Vorbild“ mit seinen großzügigen und weitreichenden Privilegien, die nicht nur Hugenotten gewährt wurden (ausführlich Lachenicht: 49ff).

Wie Hugenotten Stadt und Land prägten

Die Ausstellung zum 300jährigen Jubiläum der Flüchtlingsgemeinde in Potsdam im Jan Bouman-Haus im Holländischen Viertel (2. Juni bis 5. November) zeigt, wie Hugenotten die Stadt geprägt haben. Als erster Pastor wirkte Le Cointe, der noch persönliche Erfahrungen mit der Verfolgung in Frankreich hatte. Auch Anne Marie Baral (1728-1805), die zu einer wichtigen Produzentin im Seidenbau wurde, wird vorgestellt. 

Erinnert wird ebenso an Wilhelm Sankt Paul, der von 1821 bis 1844 Oberbürgermeister war sowie an Adolphe Briet (1822-1905), der am Aufbau des Oberlinhauses beteiligt war. Viele wären noch zu erwähnen: Lehrer, Handwerker, Unternehmer…

Manche Pastoren haben ihre Gemeinde durch schwierige Zeiten geführt. Auch die Pastorin Hildegard Rugenstein erhält zurecht ihren Platz in der Ausstellung. Sie hatte den aufgegebenen verfallenen ‚Tempel‘ nach der Wende 1989 buchstäblich wieder reformiert (siehe die Bilder in der Festschrift 2023) und der Gemeinde wie der Stadt Potsdam in vielen Jahren zahlreiche Impulse gegeben (siehe den Blog www.heinzkleger.de/300-jahre-fluechtlingsgemeinde/).

Dadurch wirkt die heutige Ausstellung nicht nur historisierend, sondern aktuell und anregend. Hoffentlich reißt dieser Faden nicht ab und einige Anstöße finden eine Fortsetzung. Der Grund ist gelegt. Das Taufgeschirr im Koffer bleibt Sinnbild von Flucht und Verfolgung.

So großzügig, rechtzeitig, originell, durchdacht (siehe die 14 Artikel des Potsdamer Edikts) und anreizbasiert die Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg-Preußen auch war, sie führte nicht nur zu Konflikten mit den lutheranischen Geistlichen, die von der Kanzel herab ihre Polemiken äußerten, sondern auch mit der einheimischen Bevölkerung, was man heute ‚Mehrheitsgesellschaft‘ nennt.

Am Beispiel der erfolgreichen Migration der Hugenotten kann man für heute noch (und wieder) lernen, dass Integration nicht ohne Spannungen für beide Seiten, die starke emotionale und materielle Aspekte beinhalten, sowie ohne Toleranz als Lernprozess abgeht. Das ist nicht nur ein kognitiver Prozess.

Gerade die moderne liberale Toleranz, heute mehr denn je, ist nicht der Königsweg der Harmonie, sondern ein anspruchsvoller Weg der Geduld, Offenheit und Neugierde, der es mit zahlreichen Konflikten zu tun hat. Insofern bedeutet Toleranz Stärke und nicht Schwäche, für die vermeintlich Starke (Großmäuler) nur Häme übrighaben, wobei natürlich das Problem der Selbstaufgabe durch (falsche) Toleranz existiert. 

Toleranz und Entschiedenheit (Politik hat mit Entscheidungen zu tun) schließen sich indessen nicht aus: Über der Toleranz steht die Urteilskraft, und zur regierenden Demokratie gehören Beschlüsse.

Toleranz schließt mithin Widerspruch nicht aus, sondern ein. Sie muss infolgedessen sozial und sachlich in die Breite gehen können, wenn sie demokratiepolitisch relevant sein will. Sie erlebt und kennt aufgrund von Lebenserfahrungen und als historische Erfahrung in der Realität wie in der Theorie Grenzen des Erträglichen, die markiert werden müssen. Wir versuchen tolerant zu sein, aber nicht indifferent. Das ist ein großer Unterschied.

Ideale Migranten?

Am Beispiel der Hugenotten stellt sich auch die grundsätzliche und keineswegs überflüssige Frage: Was heißt Integration? Welche Dimensionen umfasst sie? Integration ist ein zentraler Begriff soziologischer Theorie (Durkheim, Parsons, Habermas u.a.) und zugleich in den letzten Jahren, seit der verspäteten Anerkennung Deutschlands als „Einwanderungsland“, ein inflationär gebrauchter Begriff geworden.

Ist sein Gebrauch genügend reflektiert? Städtische Integrationskonzepte (Stuttgart 2001, Hamburg 2006, München 2008, Frankfurt a. M. 2010, Potsdam 2016 u.a.) haben dazu gezwungen, die verschiedenen Dimensionen (zwölf), ihre Schwierigkeiten und Handlungsbedarfe präziser zu erörtern (ausführlich Kleger 2016 und 2017). Ein besonders wichtiger Faktor und Indikator der Integration ist beispielsweise die Sprache. 

Die dritte und vierte Generation der Réfugiés benutzte im Alltag das Französische kaum noch. Kinder lernen schnell, während die Eliten das Französische als Lingua franca pflegten. 

Die Potsdamer Dissertation von Manuela Böhm: Sprachenwechsel, Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert belegt und analysiert diese wichtige Alltagsdimension des komplexen Miteinander.

Über Jahrzehnte führten Konflikte, Vermischungen und Integrationsprozesse dazu, dass vor allem die einheimischen Eliten in Brandenburg-Preußen Teile des Selbstverständnisses der hugenottischen Eliten aufnahmen und akzeptierten und so die vormaligen starken wechselseitigen Stereotype ihre negative Macht verloren. 

Dies wirkte sich im Selbstverständnis wie der Erinnerungskulturen beider Seiten aus, so dass die Hugenotten zu den „besten Deutschen“ (François) mutierten, was freilich eine kompensatorische Übertreibung beider Seiten darstellt: Die Hugenotten lobten ihr neues Land ebenso überschwänglich wie sie zum „Erfolgsmodell gelungener Integration“ (Lachenicht) wurden.

Heute wird wieder eine „besondere Willkommenskultur“ angemahnt. So beim Wirtschaftsforum Ostdeutschland in Bad Saarow am 10. Juni 2023, wo man händeringend nach Fachkräften aus dem Ausland sucht. Es gibt noch immer viele Vorurteile gegenüber Ostdeutschland und wieder – wie schon in den 90er Jahren – ist jeder rechtsextreme Vorfall einer zu viel.

Man will nicht wieder ein kompromittiertes Land werden nach der mühevollen Aufbauarbeit und vor den ebenso großen wie heiklen Transformationsprozessen der Wirtschaft von heute. Die Zivilgesellschaft ist gegenüber den 90er Jahren ohne Zweifel stärker geworden, was es zu konsolidieren und auszubauen gilt.

Ein ‚verordneter Patriotismus‘ wird dabei nicht helfen. Ideale Migranten gibt es nicht. Wenn Arbeitskräfte gebraucht werden, „so kommen Menschen“, so schon Max Frisch 1965 bei den ersten ‚Gastarbeiterinitiativen‘. Die harten Faktoren müssen dafür ebenso stimmen wie die sogenannten weichen, die politisch mehr herauszustellen und zu pflegen sind.

Nach 25 Jahren ‚Tolerantes Brandenburg‘ als demokratiepolitisches Handlungskonzept ist deshalb ein neuer Anlauf nötig, immer wieder.

Literatur:

Bayle, Pierre: Toleranz, Berlin 2016
Bodin, Jean: Über den Staat (Sechs Bücher über die Republik 1576), Stuttgart 1982
Böhm, Andrea: Sprachwechsel, Akkulturation und Mehrsprachigkeit, Berlin 2010
François, Etienne: Die Hugenottengeschichte als eine deutsch-französische und europäische Geschichte, in: Refuge Berlin-Brandenburg 2021
Hier geblieben? Brandenburg als Einwanderungsland (Hg. M. Asche/ Th. Brechenmacher), Universitätsverlag Potsdam 2022
Kletzin, Birgit (Hg.): Fremde in Brandenburg, Münster 2004
Lachenicht, Susanne: Verfolgung und Flucht der Hugenotten und ihre Aufnahme in Brandenburg-Preußen, in: Refuge Berlin Brandenburg 2021 
Refuge Berlin Brandenburg, Hugenottenmuseum Berlin 2021 (Hg. Silke Kamp)
Hugenotten, Nr.4/2022, Bilder zur Bartholomäusnacht 1572
Kleger, Heinz: Urbane Koexistenzphilosophie, in: Miteinander leben, Vadian Lectures 2, Bielefeld 2016
Kleger, Heinz: Flüchtlingshilfe. Von der Notsituation zur Integration, Potsdam 2017


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