Alte und neue Sozialdemokratie

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Am 1. März stellte die SPD ihr neues Wahlprogramm vor. 64 Seiten dünn, aber klar und gut lesbar. Inhaltlich so klar, wie seit 1998 nicht mehr (Kühnert). Das häufigste Wort ist Respekt in dieser ‚Gesellschaft des Respekts‘. Es scheint geradezu der vierte Grundwert nach Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geworden zu sein, was deutlich auf die gehäuften Erfahrungen gerade gegenteiliger Entwicklungen im Umgang miteinander hinweist – eine Reaktionsbildung.

Die alte Sozialdemokratie vor dem neoliberalen Sündenfall, den Agenda-Reformen von Schröder, kehrt wieder mit ihren klassischen Themen des starken Sozialstaats und der gerechteren Verteilung von Vermögen und Steuern; 12 Euro Mindestlohn und ein Bürgergeld als Grundsicherung kommen hinzu. Das klingt gut. Gleichzeitig soll in eine grünere Zukunft der Klimaneutralität bis 2050 (Beschlusslage ist 2040) und einer zum Teil längst überfälligen Verkehrswende (öffentlicher Nahverkehr, Schiene first, autofreie Innenstädte, Tempo 130) investiert werden.

„Sozial, digital, klimaneutral “ – lautet die Kurzformel, die sich reimt. Die alte und älteste Partei geht mit der Zeit, obwohl die Ansprache noch nicht so jugendlich ist wie bei den Grünen („Hallo Klima, Tschüss Braunkohle“), deren Zeit mit dem Klimaprotest gekommen ist. Grün ist die Farbe der Zeit, das ist richtig. Die Grünen verjüngen sich ständig, während die SPD immer älter wird. Kann man rot in grünen Zeiten sein? Die Zukunftsveranwortung darf man jedenfalls keiner Partei allein überlassen.

Jede Zeit erfordert ihre Antworten, so reden Parteipolitiker immer, wenn sie auf Problemlagen der Zeit und die große Zahl der Wähler in einer parteienstaatlichen Massendemokratie reagieren müssen. Die Zeit von Hartz IV ist vorbei, mit der CDU oder der FDP wird man absehbar mit diesem linken Programm, welches die Jusos und die Linke begrüßen, nicht mehr regieren können.‘ Sozialkonservativ‘ und ’sozialliberal‘ im alten Wortsinn sind für diese altneue Sozialdemokratie nicht mehr von Bedeutung. Eigentlich sind die gesellschaftlichen und politischen Folgeprobleme der größten Krise seit dem 2. Weltkrieg, der Corona-Krise, die niemand verschuldet hat, nach dem ‚big government‘ der großen Koalition die Stunde für die Sozialdemokratie. Doch es fehlt das Charisma.

Wenn man den Kanzler stellen will und das ist in einer Kanzlerdemokratie wichtig, muss die SPD mehr Prozentpunkte als die Grünen erzielen und aus dem 15% Keller herauskommen. Ob es dann für Rot-Rot-Grün reicht ist aus heutiger Sicht mehr als fraglich, eher scheint Schwarz-Grün wahrscheinlich. Nur mit einem linken Programm, das offen ist für eine neue linke oder progressive Mehrheit, kann die SPD allerdings noch in die Offensive kommen.

Vor dem Wahlprogramm konnte noch jemand, der sich vorstellen konnte, den Sozialdemokraten Scholz zu wählen, ebensogut den Christdemokraten Laschet wählen, der immerhin das sozialdemokratische ‚Stammland‘ Nordrhein- Westfalen, das Land von Heinz Kühn und Johannes Rau, die dichteste Metropolregion Europas überraschend gegen die starke Gegnerin Hannelore Kraft von der SPD gewann. Nach dem 1. März ist dies nicht mehr möglich. Scholz hat sich exponiert, Laschet muss nachziehen, seine Kanzlerkandidatur ist unumgänglich, denn die CDU kann nur als Kanzlerpartei gewinnen.

Das ist kühn und vereinfacht nicht gerade den Wahlkampf. Die Sozialdemokratie muss in die Offensive gehen, auf anderen Wegen würde sie unweigerlich von einer sozialen Christdemokratie à la Laschet geschluckt, und müsste sich in der Opposition mit neuen Gesichtern wiedererfinden. Unwahrscheinlich ist dies nicht, und Opposition ist auch nicht „Mist“ (Müntefering).

Die CDU hat für Deutschland (soziale Marktwirtschaft/Sozialstaat) immer auch einen Teil der sozialdemokratischen Agenda im Zeichen des christlichen Menschenbildes (Kohl/Geißler/Blüm und Merkel) mit abgearbeitet, und sie ist die eigentliche Europapartei. Wir lassen hier jedoch die Koalitionsüberlegungen, die im Herbst für die Regierungsbildung früh genug und ohnehin vordringliche Tagesthemen werden, zunächst einmal auf sich beruhen und wenden uns der internen Entwicklung der SPD zu.

Noch 2017 hat Schulz als Parteichef eine Analyse der Wahlniederlage in Auftrag gegeben, die mit zahlreichen Interviews durchgeführt worden ist. Die mehr als 100 Seiten wurden in der Partei breit diskutiert und auch in der medialen Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Es handelte sich um ein seltenes aufschlussreiches Dokument öffentlicher Selbstkritik in der Politik- und Parteiengeschichte. 

Die Defizite politischer Kommunikation werden darin schonungslos offengelegt in einer Zeit, in der dauernd (in der sogenannten Kommunikationsgesellschaft) von Kommunikation gesprochen wird, aber kaum noch jemand Zeit hat, miteinander zu reden, weil dauernd das Smartphone klingelt oder der nächste Sitzungstermin ruft, der meistens zu lange dauert. So ergeht es schon den Kommunalpolitiker/innen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander, was die Politikverdrossenheit durch die Politik bewirkt, in diesem Fall: die Abwendung vom Politikbetrieb der Partei durch junge engagierte Leute, was den Politiklehrer schmerzt.

Im Papier heißt es noch deutlicher: „Die SPD hat seit Jahren keinen Wert mehr auf politische Kommunikation gelegt.“ Vielleicht erwarteten sie deshalb zu viel vom ‚Heilsbringer‘ Schulz (zuvor schon Platzeck) , der buchstäblich mit 100% gewählt wurde, und das in einer säkularen Partei. Schwerwiegend war das Fehlen einer Medienstrategie und der ständige Strategiewechsel in der Ära von Sigmar Gabriel. Die SPD hat sich selbst verzwergt, indem sie aus einem erfahrenen EU-Parlamentspräsidenten einen Bürgermeister aus Würselen machte. 

Martin Schulz hatte sich immerhin persönlich „Zeit für Gerechtigkeit“ genommen und aus seinem Wahlkampf auch eine Untersuchung über die herrschenden Verhältnisse gemacht, in denen halbgebildete ‚Gebildete‘ auf Menschen ohne Abitur herabschauen. Dabei liebte er Bücher (und Fußball), was ihn besonders sympathisch machte. Um eine lange und wenig respektvolle Geschichte kurz zu machen: der neue Generalsekretär Lars Klingbeil, der den gegenwärtigen Wahlkampf leitet, hat aus den Fehlern gelernt. 

Die Kür des Kanzlerkandidaten erfolgte diesmal nicht zu spät (eher zu früh) und nicht unvorbereitet (für Insider war sie keine Überraschung). Das Tempo sowie die Klarheit und Entschlossenheit der Schritte überraschen. Es fehlt nicht an politischer Führung und nicht an Klarheit der Ideen. Eine Partei ist schließlich eine besondere Organisation, nämlich eine Organisation mit ideellen Motiven. Die bessere kollegiale Zusammenarbeit müsste selbstverständlich sein für eine Partei mit dem Grundwert der Solidarität, wenigstens ein Minimum an respektvollem Verhalten. Hier muss sie aufpassen, dass sie keine weiteren Eigentore schießt.

Der Umgang mit Andrea Nahles beispielsweise war nur eines von vielen abstoßenden Beispielen, die Abwendung von dieser Art des Politikbetriebs erzeugen. Die verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft muss heute die Politik vor der Politik retten, worauf wiederum die Parteien endlich adäquat reagieren sollten. Dabei hat die Sozialdemokratie immer noch einiges inhaltlich zu bieten, insbesondere auf den Feldern Zukunft der Arbeit, des Staates und der EU. Schulz hatte noch das anspruchsvolle Europa-Kapitel für die große Koalition geschrieben, bevor er als Außenminister verhindert worden ist. Seitdem hat die Bundesregierung europapolitisch wenig bewegt, sieht man von der geschickten Verhandlerin Merkel einmal ab.

In diesem Zusammenhang ist das Erbe von 2019, nämlich die Zukunft des Sozialstaates, die erste richtige Absetzung von Hartz lV, etwas untergegangen, auf dem auch das neue Wahlprogramm aufbaut. Der damalige Beschluss heißt: „Arbeit-Solidarität-Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“(21 Seiten), vom 6.bis 8. Dezember 2o19 in Berlin verabschiedet. Die Sozialdemokratie, die sozial und solidarisch einen eigenen Platz neben CDU und den Grünen beansprucht, knüpft hier an – alte und neue Sozialdemokratie beziehungsweise alte neue Sozialdemokratie. Das heißt soziale Politik für dich, was wiederum soziale Politik für alle oder doch für die große Zahl heißen muss. Welche Wählerschichten kann sie so ansprechen? Bleibt die SPD eine Volkspartei? Das sind die offenen spannenden Fragen.

Die Philosophie des Sozialstaats sorgt für Ausgleich und stärkt zugleich ökonomisches Wachstum, sichert Teilhabe, Integration, demokratische Entwicklung und politische Zivilisierung (S.1). Das ist der Kern der spezifischen politischen Philosophie der modernen Sozialdemokratie, es ist eine Philosophie der inklusiven sozialen Demokratie, die staatspolitische Verantwortung (z.B. nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition) übernimmt.

Der Sozialstaat ist dabei nicht nur ein Reparaturbetrieb des Kapitalismus (Marx) oder eine Illusion, er beruht auf sozialen Bürgerrechten und investiert ebenso in die Befähigung für ein selbstbestimmtes Leben – emanzipatorisch und partizipatorisch, wofür freilich die Verantwortung nicht allein beim Staat liegt. Leitlinien sind neben der Verrechtlichung als der großen Solidarität, die dem demokratischen Rechts- und Sozialstaat zugrunde liegt, die spontane zivilgesellschaftliche Solidarität und die demokratienahe Subsidiarität.

2021 knüpft die Sozialdemokratie hier wieder offensiv an, das ist die alte neue Sozialdemokratie im besten Sinne. Der Sozialstaat muss auf den rasanten Wandel der Arbeitswelt und die neuen Verunsicherungen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein eingehen können: Kinder- und Altersarmut, das bezahlbare Wohnen und den sozialen Wohnungsbau, die Inklusion und die Pflege als neues Politikfeld. Die wichtigsten Hauptpunkte sind schon im guten Papier von 2019 formuliert: das Wohnen als öffentliches Gut, gemeinwohlorientierte Bodenpolitik, der Mindestlohn von 12 Euro, anständige Tariflöhne, Absicherung von neuen Arbeitsformen, Zeitsouveränität, Weiterbildung als Schlüsselthema, Bürgergeld statt Hartz lV, Kindergrundsicherung und anderes.

Das alles sind sozialdemokratische Spezifika, während sie die vollmundigen Modernisierungsversprechen für die neuen 20er Jahre (Ankündigungsweltmeister Deutschland) zu einem großen Teil mit anderen Parteien teilt: klimaneutrales Deutschland, modernstes Mobilitätssystem in Europa, digitale Souveränität in Deutschland und Europa. Die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems, welches man krank gespart hatte, sollte demgegenüber nach der Corona-Pandemie eine Selbstverständlichkeit sein.

Eines ist klar: das Wahlprogramm für 2021 bedeutet die endgültige Abkehr von Schröders Agendapolitik 2010, die nun ein Kanzlerkandidat zu vertreten hat, der damals als Generalsekretär der Partei genau diese Politik durchsetzte. Olaf Scholz, der einstige Anwalt für Arbeitsrecht anfangs der 90er Jahre, stellt sich damit wieder auf die Seite der Wertschätzung für Arbeit und gegen entwürdigende Sanktionen. Er gibt damit der Sozialdemokratie momentan die einzige Perspektive, für die sich als Sozialdemokrat zu kämpfen lohnt. Die inhaltliche Debatte mit und für die Bürger hat damit frühzeitig begonnen. Man darf gespannt sein, wie die CDU unter Laschet und die Grünen darauf reagieren. Was die CSU und die FDP dazu sagen werden, weiß man schon.

Viele kontroverse Themen der Außenpolitik beispielsweise sind damit noch gar nicht angesprochen, sie werden unweigerlich für Deutschland in Europa und der Welt auf die Tagesordnung kommen. Ob man so den Grünen Wähler abspenstig macht oder neue Wählerschichten gewinnt, ist fraglich. Die Strategie der SPD ist riskant, aber notwendig. Sie wird ebenso der Partei wie besonders Olaf Scholz, der in Hamburg eher sozialliberal regiert hat, viel abverlangen. Die Kritik sagt jetzt schon, dass das Programm „für die Zeit ’nach Corona‘ hinten und vorne nicht reicht und dass es sich die SPD im Jahre 2019 bequem macht“. „Die Wertschöpfung für Arbeit werde sie 2022 mindestens so brauchen wie zu Schröders Zeiten“ (FAZ, 1.März 2021). Sicher ist, dass auch im Herbst ökonomische und industriepolitische Kompetenz gefragt sein wird.

Man kann nur hoffen, dass die SPD möglichst viele Prozentpunkte (über 20%!) holt und einiges von ihrem Programm durchsetzen kann. Eine neue Regierungskoalition mit eigenen Akzentsetzungen wird es so oder so geben.

Bild von Ulrike Leone auf Pixabay