300 Jahre Flüchtlingsgemeinde

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Die Französisch-Reformierte Gemeinde ist ein Pfeiler des Neuen Potsdamer Toleranzedikts (2008). Und das ist kein Zufall! Die Flüchtlingsgemeinde ist eine offene Kirche, die sich in der Hospizarbeit, im Kirchenasyl und mit ihrem Eine-Welt-Laden (Fair Trade), der 1989 eröffnet worden ist, engagiert. 

Die Gemeinde hat sich mit ihrer Pastorin Hildegard Rugenstein von Anfang an (und immer wieder) am bürgerschaftlichen ‚Toleranzedikt‘ als Stadtgespräch beteiligt. Sie hat es mit einem verbindlich-verbindenden Bekenntnis (auf den Seiten 76, 77 und 78) – von mehr als 27 Personen erarbeitet und unterschrieben – bereichert. 

Inzwischen sind mehr als 17 000 Exemplare in der Stadt verteilt, es ist im Netz und wird von der Landeshauptstadt Potsdam unterstützt. Das achtmonatige intensive Stadtgespräch hat da und dort Spuren hinterlassen. Neue Kontakte sind entstanden. Personen mit unterschiedlichsten Berufen und Herkünften wollten deshalb diesen Schatz nicht wieder verspielen und haben den Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt – Gemeinsam für eine weltoffene Stadt‘ am 29. Oktober 2009 in der Französischen Kirche gegründet. Sie wollten den Schwung aufnehmen und weiterführen: HelpTo, Anders als du glaubst, Brandenburg zeigt Haltung, sind daraus erwachsen. 

Die 1753 erbaute Kirche, welche die Gläubigen ‚Tempel‘ (le temple réformé) nennen, verknüpft die alte Tradition der Einwanderung, Integration und Toleranz mit neuen Herausforderungen. Verschiedene unvergessene Veranstaltungen des Neuen Toleranzedikts haben in den letzten Jahren dort stattgefunden. 

Darunter eine mehrmalige originelle Aufführung mit Schulkindern von Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ zusammen mit dem ‚Poetenpack‘ sowie eine kontroverse Diskussion über die neue Synagoge unter dem Motto: das geduldige Zuhören wollen wir ebenso einüben wie das Debattieren. Das konventionell-unkonventionelle Zusammenkommen sowohl in der Kirche (mit Breakdance!) wie im Hugenottengarten im Holländischen Viertel war jedes Mal erquicklich und weiterführend. 

Für eine Ost-West-Stadt wie Potsdam, die ständig wächst und sich neu mischt, bleibt eine zivile Tugend wie die Toleranz als notwendige Ergänzung der wachsenden individuellen Freiheit lebenswichtig. Im neuen Toleranzedikt haben wir (nach vielen Gesprächen und zahlreichen Wortmeldungen) Toleranz als Geduld, Offenheit und Zivilisierung von Differenzen definiert (Seite 22). 

Definitionen sind zweckmäßig oder nicht. Das Spektrum der Toleranz als Verhaltenstugend kann noch nuancierter und zugespitzter sein, wenn wir einer Philosophie der Alltagssprache folgen, die mit Lebensformen verknüpft ist. 

Dann lässt sich auch programmatisch an den besten Satz aus Preußen anknüpfen: Jeder nach seiner Façon – mit so viel Toleranz wie möglich, wollen wir ergänzen. Das schließt das schwierige Thema der Grenzen von Toleranz ein, die ebenfalls mit Entschiedenheit markiert werden müssen. Beides schließt sich nicht aus. Wo und wie? Das ist immer wieder eine Frage der eigenen Urteilskraft. 

Man sieht aber auch, dass es nicht ohne Konflikte geht, gerade dann, wenn wir einen demokratischen Individualismus leben möchten, für den wir eine Mitverantwortung tragen. Sie darf nur ein gewisses Maß an Gleich-Gültigkeit erreichen, wofür es keine allgemeine streng wissenschaftliche Anleitung für alle Fälle gibt. Vielen ist Toleranz zu wenig (sie wollen Wertschätzung, Akzeptanz, Gerechtigkeit). 

Selbstverständlich ist sie aber nach aller Lebenserfahrung nicht, weder alltäglich noch politisch. Ist sie ersetzbar? Warum nicht? Diese Frage sollten wir uns in Ruhe selbst beantworten können. Dies ist wichtig, um nicht wieder einer verführerischen Großideologie, die alles besser weiß, zum Opfer zu verfallen. Für sie war und ist Toleranz tatsächlich zu wenig. 

Die Lebensphilosophie mit dem methodischen Ausgangspunkt der normalen Alltagssprache ermöglicht zumindest das inklusive Gespräch mit allen, die ihre eigenen Erfahrungen mit Toleranz und Intoleranz einbringen können. Daraus wiederum können und sollen breite Bündnisse entstehen, die effektiv sind und zugleich nachhaltig in die Tiefe gehen und die liberale Demokratie schützen.

Die Politik in Ostdeutschland nennt dies die Stärkung der Zivilgesellschaft, die heute weiter ist als noch in den 90er Jahren. Diese Absicht steht hinter dem ‚Toleranten Brandenburg‘ seit 1998 und dem neuen Potsdamer Toleranzedikt seit 2008. Eine solche Tradition können wir als selbstgewählte Tradition fortführen. Sie bildet unseren Toleranztest und ist demokratiepolitisch relevant. 

Die Refuge Berlin Brandenburg der hugenottischen Migration seit 1672 ist das Beispiel einer nicht konfliktlosen (wo gibt es das?), aber gelungenen Integration (sie kann auch scheitern!), man kann sogar von der nachfolgenden Geschichte her sagen: erfolgreichen Integration. Letzteres gilt für die französisch-deutsche, wie vor allem berlin-brandenburgischen Geschichte (Hugenotten-Museum Berlin 2021).

Das ist selten und deshalb bis heute präsent, was für viele andere Einwanderungsgruppen nicht zutrifft (siehe Enzyklopädie Migration in Europa, Paderborn 2007). Diese (Erfolgs-) Geschichte darf jedoch heute nicht zum bloßen wohlfeilen Marketing-Artikel werden, sondern sollte als Anknüpfungspunkt ernster und gedanklich produktiver genommen werden. 

Die in den 90er Jahren mühsam und liebevoll renovierte älteste Kirche Potsdams, die 1968 geschlossen und als Abstellschuppen vernachlässigt worden war, steht in der Stadtmitte quasi als architektonischer „Fremdkörper“ vor dem großen, achtstöckigen, verschachtelten Bergmann-Klinikum aus der DDR-Zeit in einem besonderen Ensemble neben dem sowjetischen Ehrenmal, der größten katholischen Kirche Peter und Paul, dem Skaterplatz mit Graffiti-Wänden, Ruhe- und Spielwiesen, Busbahnhof und Taxistand. 

Der Bassinplatz ist insgesamt ein, aus den Kontingenzen der Geschichte heraus, Stein gewordener Platz der Toleranz und nicht Ausdruck eines intoleranten Purismus. Die ungewöhnliche Kuppel und die barocke Orgel machen diesen schmucklosen Tempel, in der man sich statt der Bilder auf das Wort der Bibel konzentrieren soll, besonders. Friedrich ll. hat sie finanziert und seine beiden größten Baumeister: Knobelsdorff und Schinkel, waren an ihr beteiligt. Der religionsindifferente Stoiker Friedrich hätte am liebsten ein Pantheon für alle Konfessionen geschaffen.

Vor 300 Jahren stand die Schweiz im Zentrum einer europäischen Flüchtlingskrise. Als Page ihres Schleppers verkleidet, will die junge Hugenottin Anne-Margerite Petit, zusammen mit 60 000 Glaubensflüchtlingen, von Lyon nach Genf, das sich noch heute als ‚cité de refuge‘ versteht. Über ihre abenteuerliche Flucht verfasst sie einen Bericht (Amsterdam 1760). Aber auch in Genf muss sie weiterziehen, denn Frankreich übte Druck auf die Calvin-Stadt aus, welche aus amerikanischer Sicht das „protestantische Rom“ geworden ist.

Von Genf aus zweigten die Wege der Waldenser, dieser Protestanten vor der Reformation, in die schwer zugänglichen Bergtäler ab. Die Waldensergemeinden sind wichtige Zufluchtsgemeinden bis heute geblieben, trotz schwerster Bedrängnisse. Im heutigen Europa will man die Erinnerung an die gefährlichen Fluchtwege wachhalten. Es galt, die katholischen Kantone von Genf aus über Lausanne, Bern in die Zwinglistadt Zürich bis zur Grenzstadt Schaffhausen sorgsam zu umgehen. Von dort ging es weiter nach Norden, oft nach Deutschland, das nach dem 30jährigen Krieg entvölkert war (siehe NZZ, 7. November 2015).

Das Edikt von Potsdam 1685 war in diesem Zusammenhang ein rechtzeitiger subversiver und zweckmäßiger Schritt der Peuplierungspolitik aus Solidarität und Mitleid mit den protestantischen Glaubensgenossen. Seine 14 Artikel waren von A bis Z durchdacht und konnten weitgehend eingelöst werden. Symbolpolitik war es nicht. 

Die Gemeinde war eine Umsetzung davon. Sie wurde am 11. Juli 1723 gegründet und feiert in diesem Jahr 300 Jahre ‚Geist und Freiheit‘ mit zwei Festgottesdiensten am 9. Juli und am 23. September sowie einer Ausstellung im Jan Boumann-Haus im Holländischen Viertel (Mittelstraße 8, 2.6. bis 5.11.).

„Ihr seid das Salz der Erde“ (Matthäus 5, 13-16). 
„Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen?“

Mehr Informationen:
Neues Potsdamer Toleranzedikt (2008, PDF-Version)
Webseite des Vereins Neues Potsdamer Toleranzedikt e. V.

Bildnachweis: istockphoto.com/Leonid Andronov